75. Berlinale: MY UNDESIRABLE FRIENDS: PART 1 – LAST AIR IN MOSCOW von Julia Loktev

Sich dagegen stellen
Am 21. Februar 2024 hat die Gouverneurin von Maine, Janet Mills, Trump ins Gesicht gesagt, dass sie sein Dekret zum Ausschluss von Trans-Athlet*innen aus dem Frauensport nicht umsetzt, weil es im Konflikt mit den geltenden Gesetzen ist. Und als er drohte, Maine Bundesmittel zu entziehen, erwiderte sie „Wir sehen uns vor Gericht.“ Janet Mills wird vermutlich nicht mehr im lang im Amt sein, aber sie hat etwas absolut Seltenes getan: Sie hat Trump laut widersprochen. Sie ist nicht eingeknickt, sie hat nicht gekuscht. Mit ihrem Widerspruch reiht sie sich in eine relativ kurze Liste an mutigen Menschen ein. Und es scheint, als gäbe es besonders viele Frauen unter ihnen. Als wären sie die letzten Bastionen des Widerstands, bevor Trump die USA vollends in eine Diktatur umgebaut hat.
Julia Loktev wundert sich vermutlich nicht, dass es vor allem Frauen sind. Auch in ihrem Berlinale-Special-Beitrag MY UNDESIRABLE FRIENDS: PART 1 – LAST AIR IN MOSCOW begleitet sie vorrangig Frauen, die bis zum Schluss bleiben, widersprechen und kämpfen: Von Mitte 2021 bis zum Beginn des Angriffskrieges am 24. Februar 2022 (und ein paar Tage darüber hinaus) filmt sie einige der letzten übrig gebliebenen Independent-Journalist*innen in Russland bei ihrer Arbeit, ihren Recherchen, aber auch ihrem Alltag. Da ist Anna Nemzer, TV-Rain-Veteranin mit ihren Ü30; die 23-jährige Journalistin Ksenia Mironova, deren Verlobter Ivan Safronov 2020 unter Anschuldigungen des Hochverrats zu 22 Jahren Haft verurteilt wurde; Jelena Gennadjewna Kostjutschenko von der Novaya Gazeta, die sich kurz nach Kriegsbeginn in die Ukraine begeben wird, um von dort aus zu berichten; die kettenrauchende queere Alesya Marokhovskaya, von deren Beziehung niemand etwas wissen darf. Und viele mehr. Entstanden sind daraus 324 Minuten oder auch fünfeinhalb Stunden Film. Loktov montiert dabei Berichterstattungs-Snippets mit ihren eigenen Handy-Aufnahmen, oft sind die Bilder verwackelt, zu nah dran oder zu weit weg – und doch lohnt es, den Film in ganzer Länge zu schauen. Er ist ein ungemein wichtiges Zeitdokument.
Er ist unter anderem so wichtig, weil er zeigt, wie perfide und taktisch autoritäre Systeme bei der Gleichschaltung vorgehen. Eines der wichtigsten Tools ist das „Ausländische-Agenten-Gesetz“: Ein Gesetz, das unliebsame Bürgerinnen brandmarkt und es sogar im Bereich der politischen Medienarbeit nötig macht, dass sich die Gebrandmarkten offen als Agent*innen deklarieren/denunzieren. Seit 2012 ist es in Kraft, doch in den Monaten vor dem Angriffskrieg wurde die Liste entscheidend länger; auch TV Rain wurde auf die Liste gesetzt sowie einzelne dort arbeitende Journalistinnen. Immer wieder wird auch MY UNDESIRABLE FRIENDS von einem entsprechenden Disclaimer unterbrochen – Galgenhumor. Für die Journalistinnen hat das natürlich gravierende Folgen, die von erschwerten Recherchen über die Ächtung im Familienkreis reicht – aber natürlich auch eine Auszeichnung der Widerständigen bedeutet.
Denn Sprache, das zeigt MY UNDESIRABLE FRIENDS eindrücklich, ist eben Macht. Das gilt vor allem für den Angriffskrieg selbst, der in Russland als „militärischer Spezialeinsatz“ gilt. Ein Wording, dass bei Rain in Gänsefüßchen genutzt wird, damit der Sender weiterarbeiten kann. Besonders einprägsam: Ein Interview mit einem Regierungsberater (fast unvorstellbar, dass dies noch möglich war!). Auf die Frage, warum denn nach dem 24. Februar die Zustimmungswerte für Selenskyj in der Ukraine bei über 90% liegen, wenn doch die Ukrainerinnen sich so über den „Anschluss“ an Russland freuten, sagt er „Lügen, alles Lügen“. Sprache als Mundtot-Macher. Ein weiteres Beispiel ist der sprachliche Umgang der Regierung mit Andersdenkenden, die im Knast sitzen: Da säßen ja eben keine Oppositionellen – die nur in anderen Ländern unterdrückt werden – da säßen nur Kriminelle. Es ist einfach, aus dem bequemen Kinosessel im Ausland diese Wortverdrehungen und Manipulationen als solche zu erfassen – aber Loktev zeigt, und das ist das Wichtige, wie die TV-Rain-Journalistinnen versuchen, diese offiziellen Sprachregelungen zu navigieren, aber gleichzeitig mit ihrer Arbeit die manipulativen Mechanismen des Systems, seine Grausamkeit sowie die arbiträre und anonyme Durchsetzung von Gewalt offenlegen.
Es ist die Gemeinschaft, die dazu beiträgt, dass diese wahnsinnig mutigen Journalistinnen so lang am Ball bleiben. Wir sehen sie oft, wie sie einander umarmen, miteinander kochen (dass einem das Wasser im Munde zusammenläuft), mit Nachrichten und Anrufen überprüfen, dass es den anderen gutgeht. Als ein Moderator bei einem Protest festgenommen wird, sitzt eine solidarische Mädelsgruppe im Taxi in der Kälte vor dem Gefängnis, um auf ihn zu warten, sie sind allesamt zwischen 19 und 23 Jahre alt. Und als es dem Anwalt nicht möglich ist, den Kollegen freizubekommen, bringt er eine weitere Wahrheit über autoritäre (im Grunde ja totalitäre) Systeme auf den Punkt: Niemand haftet. Wann immer er mit jemandem rede, werde auf den nächsten „Boss“ verwiesen, ohne Namen, ohne Zuordnung, ohne Möglichkeit der Identifikation. Die Mädels lachen, Humor als Überlebensstrategie.
Aber auch diese Überlebensstrategien – es gibt auch einen riesigen Harry-Potter-Hype, der sie in harten Momenten unterhält und ablenkt, aber auch zeigt, wie ungemein jung die meisten von ihnen noch sind, fast noch Kinder – taugen irgendwann nicht mehr. Als der Sender schließlich abgeschaltet wird und neue Verhaftungswellen beginnen, müssen sich Anna und die anderen mit der Option des Exils befassen. Nicht, ohne damit zu hadern. Denn das Weggehen kommt auch einer Sinnlosigkeit, einem Aufgeben gleich – und wer sind sie, woanders? In ihrer kleinen aktivistischen Community erfahren sie schließlich neben Selbstwirksamkeit auch eine gewisse Wichtigkeit; sie sind jemand (das ist vielleicht das einzige Manko des Dokuments: Loktev weiß um die magnetischen Auren ihrer schönen Protagonistinnen und verweilt manchmal etwas zu verliebt in ihren Gesichtern).
Die Ausreise-Gedanken – inzwischen leben fast alle porträtierten Menschen im Exil, hier soll es einen Part II des Films geben – sind eng mit der Erkenntnis verknüpft, dass sich dieser Kampf gegen den russischen Goliath vielleicht doch nicht gewinnen lässt. Eine schmerzliche Wahrheit. Und man teilt diesen Schmerz und die Frustration der Journalistinnen über die Lethargie des Großteils der russischen Gesellschaft, die still bleibt, nicht demonstriert, oft verlauten lässt, dass sie ja unpolitisch sei. Und die damit Putin auch mitermöglicht. In solchen Momenten ist MY UNDESIRABLE FRIENDS besonders eindrücklich und beängstigend, weil er einen so stark mit sich selbst und der eigenen Verantwortung konfrontiert: Wie sieht ein historisches Momentum aus, in dem ein demokratisches System kippt? Würde ich es begreifen, wenn mein Land in eine Diktatur umgebaut wird? Und wenn es so ist: Was mache ich mit dieser Erkenntnis – gehe ich auf die Barrikaden oder bleibe ich im Sessel hocken?