75. Berlinale: PUNKU von J.D. Fernández Molero


PUNKU © J.D. Fernández Molero
PUNKU © J.D. Fernández Molero

Surreale Welten in Peru

Die Augen spielen eine zentrale Rolle bei der Rezeption von Filmen. Das Auge und das Kino: Schnell denkt man hier an Luis Buñuels und Salvador Dalís Kurzfilm EIN ANDALUSISCHER HUND (Frankreich 1929) und den berühmten Augenschnitt. Das Aufbrechen von Sehgewohnheiten. Surrealistische Bilderwelten erwarten die Zuschauer*innen auch bei PUNKU des peruanischen Regisseurs J.D. Fernández Molero.

PUNKU handelt von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Traumwelten und Realität. Mit diesem surrealen Ansatz erzählt der Film die Geschichte zweier junger Menschen. Da ist zum einen Iván (Marcelo Quino), ein seit zwei Jahren vermisster Junge, der zu Beginn des Films mit einem infizierten Auge von einer Gruppe Kinder und Jugendlicher am Flussufer gefunden wird. Unter ihnen ist auch die junge Machiguenga (eine indigene Ethnie Perus) Meshia (Maritza Kategari), die Iván ins Krankenhaus der Stadt Quillabamba bringt. Die Ärzt*innen können nichts mehr machen und entfernen das Auge des Jungen. Meshia bleibt im Krankenhaus an seiner Seite. Dort sieht sie Werbung für eine Miss Meerjungfrau-Wahl und beschließt, an dem Schönheitswettbewerb teilzunehmen. Neben Iván liegt ein zwielichtiger Mann (Ricardo Delgado), ein Bekannter von Iváns Familie, im Krankensaal. Im Krankenhaus wird Iván mit seiner Familie wiedervereint und Meshia beschließt, bei Iváns Familie zu bleiben. Sie wird dort zur Schule gehen und in der Bar von der Familie aushelfen. Die Familie erzählt, dass Iván nicht möchte, dass Meshia die Familie verlässt.

Mit PUNKU erwartet die Zuschauerinnen ein Film über zwei junge Menschen, die in völlig unterschiedlichen Realitäten zu Hause sind. Iván reagiert nur sehr subtil auf seine Umwelt, spricht nicht und wirkt teilnahmslos. Gelegentlich verschwindet er, um dann irgendwo liegend gefunden zu werden, wie zu Beginn des Films am Fluss. „Punku“ bedeutet auf Quechua, einer indigenen Sprachgruppe Südamerikas, „Portal“. Ein solches Portal spielt in Moleros experimentellem Spielfilm eine zentrale Rolle. Iván erhält dadurch die ungewollte Fähigkeit, mit Geistern und Dämonen zu kommunizieren, ist diesen bösen Wesen aber auch schutzlos ausgeliefert. Der Mann aus dem Krankenhaus scheint eine Personifikation des Bösen oder von Dämonen und Geistern besessen zu sein, was jedoch niemand erkennt, da das Böse in PUNKU nur im Dunkeln erscheint. Diese Dunkelheit durchzieht den Film und mit ihr eine unausgesprochene Ausweglosigkeit: Sowohl Meshia als auch Iván sind der harten Realität schutzlos ausgeliefert. Der sprachlose Iván hat keine Möglichkeit, sich zu schützen, außer durch Meshia, die manchmal unbemerkt eingreift, denn sie kann keine Geister oder Dämonen sehen, aber ist oft im richtigen Moment bei ihm. Meshia hingegen hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten Maßnahmen ergriffen, um in der Realität zu leben. Es gelingt ihr sehr schnell, an dem neuen Ort Freundinnen zu finden und vor allem träumt sie davon, ein großer Star zu werden. Doch wie soll das in ihrer Heimat gelingen? Die Misswahl klingt vielversprechend, zumal sie dabei von ihrem Umfeld unterstützt wird. Es scheint realistisch, dass sie gewinnen könnte. Vieles in ihrem Leben dreht sich um das eigene Aussehen. Das ist ihre Realität und die der anderen Mädchen und Frauen. Bei ihrer Arbeit in der Bar trägt sie knappe Kleidung. Sie filmt sich beim Tanzen mit Filtern, die ihr Gesicht verändern, es schmaler und die Haut makelloser machen, die Augen größer, sodass sie nicht wiederzuerkennen wäre, wenn da nicht die Zahnspange wäre, die durchschimmert und verrät, dass sich hinter den Filtern Meshia verbirgt. Auch im Alltag scheint sie Filter zu tragen – eine Maske, die aus einem unerschütterlichen, freundlichen Lächeln besteht. Sie lächelt ständig, weil – so suggeriert es der Film – das von ihr erwartet wird. Und so ist es bezeichnend, dass sie, die Dauerlächelnde, bei einem Fotoshooting für den Schönheitswettbewerb aufgefordert wird, mehr zu lächeln: Authentischer zu lächeln.

PUNKU steht für eine tief verwurzelte Objektifizierung der Frau, die sowohl von Männern als auch von Frauen akzeptiert wird. So werden Meshia und ihre Freundin beim Einkaufen und Anprobieren von Kleidung von einem jungen Mann beobachtet, der sich nur deshalb im Laden aufhält. Es gibt aber auch erschütterndere Ereignisse, die Meshia hinnimmt, ohne sich im Nachhinein an jemanden zu wenden. Einmal wird sie nachts auf offener Straße von einem vermummten Mann verfolgt, kann ihm aber entkommen. Ein anderes Mal wird sie von dem Mann aus dem Krankenhaus sexuell belästigt. Er legt seine Hand auf ihre Tätowierung, eine Lotusblüte, die sich unter ihrer Brust befindet. Als es ihr sichtlich unangenehm wird, bleibt seine Hand an der gleichen Stelle. Die Lotusblume ist ein Symbol der Reinheit, da sie als schmutzabweisend gilt.

Die Themen des Films werden in surrealen Bildwelten erzählt, wobei auch filmische Techniken wie Animation und Puppentrick zum Einsatz kommen, für die sich allein schon die Rezeption von PUNKU lohnt. So taucht etwa im Film ein kleiner Supay auf, der Gott des Todes und Herrscher der Unterwelt.
Es hätte sicher keine 132 Minuten, die der Film dauert, gebraucht, um diese faszinierende Geschichte zu erzählen, und es hätte auch nicht geschadet, Iván und Meshia etwas mehr miteinander interagieren zu lassen. So wirken ihre Handlungsstränge stark voneinander getrennt und der Grund, warum Meshia bei Iváns Familie bleibt, wird zwar genannt, aber nicht wirklich gezeigt. Vielleicht bleibt sie aber auch nicht wegen Iván dort, sondern wegen der für sie sehr wichtigen Misswahl und der möglichen Erfüllung ihres Traums. Auch das ist sicher eine Interpretationsmöglichkeit.

PUNKU ist auf jeden Fall sehenswert. Allein schon wegen der seltenen Gelegenheit, einen Film aus Peru zu sehen, der indigene Kultur und Elemente des filmischen Surrealismus eng miteinander verknüpft.

Termine bei der 75. Berlinale:
Mittwoch, 19. Februar, 10:00 Uhr, Cubix 8
Freitag, 21. Februar, 17:30 Uhr, Delphi Filmpalast