„American Honey“ von Andrea Arnold


Zerbrochene Träume

„Do you have dreams?“ Diese Frage stellt ein Trucker der 18-jährigen Star (Sasha Lane) auf ihrer Reise durch das staubige amerikanische Hinterland. „No one has ever asked me that“, erwidert diese beinahe verwundert. Dabei ist die Suche nach dem eigenen Lebensweg und der Verfolgung der persönlichen Ziele ein zentraler Aspekt des diesjährigen Cannes-Gewinners „American Honey“ von Andrea Arnold.
Star kommt ursprünglich aus Texas und schließt sich einer Drückerkolonne an, die quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika fährt um an den Haustüren der Wohngegenden Zeitschriftenabos zu verkaufen. Sie hat nichts zu verlieren. Zu ihrer Meth-abhängigen Mutter und ihrem missbräuchlichem Stiefvater pflegt sie ein distanziertes Verhältnis. So eröffnen sich für sie neue Perspektiven, als sie mit ihren kleinen Geschwistern im Schlepptau an der Supermarktkasse eines großen Shoppingcenters dem schillernden und charismatischen Jake (Shia LaBeouf) über den Weg läuft. Er verspricht ihr Abenteuer, Parties und große Gewinne. 300 Dollar am Tag könne sie problemlos verdienen, wenn sie sich seinem Verkaufsteam anschließt. Ein Traum der eigentlich zu schön klingt, um wahr zu sein. Doch sie packt ihre Sachen und willigt fasziniert ein.

Träume, amerikanische Träume, sind das Thema von Andrea Arnolds "American Honey". Danach geht die 18-jährige Star (Sasha Lane) auf die Suche. © Universal Pictures International Germany GmbH
Träume, amerikanische Träume, sind das Thema von Andrea Arnolds „American Honey“. Danach geht die 18-jährige Star (Sasha Lane) auf die Suche. © Universal Pictures International Germany GmbH

Wie in Andrea Arnolds vorherigen Filmen stehen auch hier starke Frauenfiguren, verführerisch-bedrohliche Männer und fragile soziale Umfelder im Zentrum der Erzählung. Waren dies zuvor die Glasgower „Red Road“ – Sozialwohnungskomplexe ihres gleichnamigen Spielfilm-Debüts oder die Council Estates von Essex in ihrem internationalen Durchbruch „Fish Tank“, so erkundet die Protagonistin Star nun das staubige amerikanische Heartland mit seinen Ölfeldern, wohlhabenden Neighbourhoods und schmuddeligen Motels. Die Mitglieder ihrer Verkaufsgruppe sind Misfits, junge gesellschaftliche Außenseiter ohne Perspektive. Sie befinden sich allesamt auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit, ohne ein konkretes Ziel vor Augen zu haben.

„American Honey“ folgt ihnen als atemloses Roadmovie in hypnotischen verwackelten Handkamera Aufnahmen. Die Bilder im nahezu quadratischen Academy-Format nehmen dabei die Position der Figuren ein und kreisen stetig um diese herum. Wir sehen keine imposanten Panoramen und Sehenswürdigkeiten. Stattdessen erkunden wir die Wolkenkratzer von Kansas City, dem ersten Stop auf ihrer Verkaufstour, während der Fahrt in die Stadt durch die Fenster des Vans. Die Fokussierung auf kleine Details und den Eindruck, dass jederzeit unerwartetes passieren kann, vermittelt eine Spontanität, welche die Faszination für die Geschehnisse über die gesamte Laufzeit von nahezu drei Stunden aufrechterhalten kann.


Das Reisen und der Verkauf von Zeitschriftenabos stellt für die gesamte Gruppe dabei weitaus mehr als einen bloßen Job dar. Es stiftet trotz des rauen Umgangstons und strenger Regeln wie Prügelstrafen für erfolglose Verkäufer ein Ziel und eine Identität in einer Welt, die sich sonst nicht um sie kümmert. Sie leben von Tag zu Tag und können sich an keinen Alltag anpassen. Auf dem Weg zur Arbeit trinken sie sich Mut an, rauchen Gras und bringen sich mit Rap- und Trap-Musik in Stimmung. Nach Feierabend wird zusammen gefeiert. Eine zerbrochene Antithese des „American Dream“, wie sie bereits Harmony Korine mit „Spring Breakers“ inszeniert hat.

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