„Nymphomaniac Vol. I“ von Lars von Trier


Ihr Gespräch mit Seligman bewegt sich daher zwischen religiöser Konfession und psychotherapeutischer Anordnung, die ihr Zuhörer immer wieder mit gänzlich unsexuellen Metaphern anreichert. Für ihn sind Joes Eskapaden nicht nur harmlos, sondern auch eine spielerisch-lustvolle Ausdrucksform von Taktik und Kalkül. Für Joe ist jeder Orgasmus ein zur Glückseligkeit verzerrter Hilfeschrei, von dem ihre unzähligen Bettgefährten keine Notiz nehmen. Ihre Vornamen hat Joe durch Buchstaben ersetzt. Das lässt sich nicht nur leichter merken, es unterstreicht auch die Dimension absoluter Unpersönlichkeit und Anonymität.

Nur zwei Männer haben in Joes Erzählungen eine eigene Identität: Ihr Vater (Christian Slater) und ihr erster Liebhaber Jerôme (Shia LaBeouf). Durch sie wird deutlich, dass es sich bei Joes Erzählungen nicht um die amüsanten Anekdoten einer sexuell emanzipierten Frau handelt, sondern um eine Chronologie von Verstörung und Selbstzerstörung. Beide Männer markieren ein Doppeltrauma geprägt von Überfluss und Mangel an Liebe, das Joe zu dem gemacht hat, was sie ist: Eine Nymphomanin, die mit ihrer nie versiegenden Libido ihren Schmerz zu überschreiben sucht.

Abschließend sei vermerkt, dass diese Lesart nur eine von vielen Möglichkeiten ist, sich Joes Erzählungen zu nähern. Das mag auf Filme im Allgemeinen zutreffen, aber insbesondere „Nymphomaniac Vol. I“ ist für jeden einzelnen Betrachter eine persönliche Einladung zur individuellen Projektion und Abgrenzung. Schon deshalb, weil Trieb und Begehren unendlich viele Graustufen zwischen konsequenter Entsagung und gelebter Sucht eröffnen. Und weil ein Extrem nur so lange existiert, bis es um ein anderes übersteigert wurde. Ein Ausblick auf den zweiten Teil macht dies am Ende des Films bereits deutlich. Joes Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.

Alina Impe

Nymphomaniac Vol. I Regie: Lars von Trier; Drehbuch: Lars von Trier, Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Uma Thurman, Stellan Skarsgård, Willem Dafoe, Jamie Bell, Connie Nielsen, Udo Kier, Jean-Marc Barr, Shia LaBeouf, Christian Slater, Michael Pas, Sophie Kennedy Clark, Kinostart: 20. Februar 2014, DVD-Start: 20. November 2014

Weiterlesen: „Nymphomaniac: Vol. II“ von Lars von Trier.

1 2