„Das Unbekannte Mädchen“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne
Obduktion des Sozialen in der Vorstadt
Seit über einer Stunde haben sie bereits Feierabend, die letzten Patienten sind gerade erst gegangen. Jetzt geht es noch darum, Krankenakten abzuheften und die Praxis für die Konsultationen am nächsten Tag zu schließen.
Jenny Davin, die junge Vertretungsärztin, war gerade dabei ihren Praktikanten Julien zurecht zu weisen, der beim Anblick eines epileptischen Jungen die Fassung verloren hatte: „Ein guter Arzt muss seine Gefühle im Griff haben.“ Ihr Handy klingelt, es ist das Empfangskomitee für ihren neuen Job, eine Stelle in einem privaten Gesundheitszentrum – man erwartet sie bereits. In diesem Moment läutet es an der Tür. Der Praktikant springt auf – will die Tür öffnen, sie hält ihn jedoch zurück: „Nicht öffnen, wir haben schon seit einer Stunde zu.“ Später fügt sie hinzu: „Wer so spät noch klingelt, dem ist egal, wie müde wir sind.“
In diesen ersten Momenten von „Das unbekannte Mädchen“ zeigt sich bereits das große sozialkritische Potenzial, für das die belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne so bekannt sind: Sie kritisieren unterschwellig das öffentliche Gesundheitssystem, den Ärztemangel in den städtischen Peripherien und die Auslastung des medizinischen Personals.
Mit ihren engagierten Sozialdramen aus dem mittleren und unteren Arbeitermilieu, fast immer angesiedelt in Seraing, einer ehemaligen Industriestadt in der Region Lüttich in Belgien, gehören die beiden Brüder zu den ganz wenigen Regisseuren, die in Cannes bereits zweimal mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurden: 1999 für „Rosetta“ und 2005 für „Das Kind“. Mit ihrem nüchternen, dokumentarisch motivierten Stil und ihren mehr oder weniger formlosen Realismus kreieren die Brüder Dardennes mit ihren Filmen soziale Versuchsanordnungen menschlicher Interaktionen in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft.
Auch in „Das unbekannte Mädchen“ geht es um die einfachen Leute, die sozial Schwächeren, die an den vorindustriellen Rändern der Stadt wohnen, in Wohnwägen oder an der Schnellstraße und die ihre Zeit in Internetcafés absitzen. Mit diesem Film wagen sich die Dardennes jedoch zaghaft auf neues Terrain und integrieren typische Elemente des Kriminalfilms: Als Jenny Davin, gespielt von der talentierten Adèle Haenel, am nächsten Morgen die Praxis aufschließt, erfährt sie von der Polizei, dass es sich bei dem späten Klingeln um eine junge Frau gehandelt hatte, die sich auf der Flucht vor einem Angreifer befand und am nächsten Morgen tot am Ufer der Maas aufgefunden wurde. Während die Polizei sich an die Ermittlungen zur Klärung der Umstände ihres Todes macht, macht Jenny, die sich für den Tod dieser jungen Frau verantwortlich fühlt, auf die Suche nach deren Identität.
Aus der engagierten jungen Ärztin Jenny wird sehr schnell der determinierte Inspektor Davin: Bei ihren Hausbesuchen, zwischen dem Smalltalk und dem Abhören der Brust, zeigt sie immer wieder auch das Bild des verschwundenen Mädchens. Mit naiver Entschlossenheit stellt sie ihre Fragen und folgt unbeirrt jedem Hinweis, den sie bekommen kann. Als sich heraus stellt, dass einige ihrer Patienten, in diesen Fall involviert sind, lässt sie sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil, ihre Suche wird dabei immer obsessiver, verbissener, entschlossener.