„Das Unbekannte Mädchen“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne



Jenny Davins nächtliche, erratische Autofahrten werden lediglich unterbrochen durch ein paar Patientenanrufe, nur wenige Male sieht man sie im Fensterrahmen eine Zigarette rauchen, sobald sie sich schlafen legt, klingelt entweder ihr Handy oder die Tür – die Besessenheit ihrer Suche nach Aufklärung und die stille Undurchschaubarkeit ihrer Figur, sind alles typische Charaktereigenschaften des problembehafteten Detektivs im Kriminalfilm. Und doch verweigert sich der Film vehement dem Genre, hier gibt es kein wirkliches „Whodunit?“, es geht nicht darum, die genauen Todesumstände zu klären, das bleibt Aufgabe der Polizei.
Der jungen Ärztin geht es darum, dem unbekannten Mädchen einen Namen zu geben. Sie geht sogar so weit, der Toten ein Grab auf dem Friedhof zu reservieren. Unter einem Baum und mit einer Laufzeit für zehn Jahre – falls sich doch noch Verwandte finden, die eventuell die danach anfallenden Kosten übernehmen möchten.
Dabei ist jedoch unklar, was genau es ist, was sie so antreibt. Ist es wirklich nur das schlechte Gewissen?

Immer wieder dreht es sich bei den Dardennes um die sehr schwierige moralische Frage, was ein Menschenleben wert ist in einer kapitalistischen Welt, wenn die eigene Existenz auf dem Spiel steht.
Dabei wenden Sie sich in ihren Filme jeweils einem besonderen Milieu zu: In „Lornas Schweigen“ aus dem Jahre 2008 sind es illegal organisierte Scheinehen zum Erhalt der belgischen Staatsbürgerschaft, in „Zwei Tage, eine Nacht“ von 2014 sind es die Folgen der Wirtschaftskrise und die drohende Arbeitslosigkeit.
Sie konfrontieren ihre Protagonistinnen mit Situationen, die das Beste und das Schlechteste im Menschen hervor rufen. Ihre Figuren befinden sich in existenziellen oder moralischen Zwangslagen, die sie zu extremen Handlungen bewegen und doch sind ihre Filme von großer Menschlichkeit und starkem sozialen Verantwortungsbewusstsein geprägt.
Mit ihren Filmen zeigen uns die Brüder Dardenne eine ungeschönte Bestandsaufnahme des Hier und Jetzt. Gleichzeitig prangern ihre Filme aber auch sehr deutlich soziale Missstände an, bieten gleichzeitig jedoch auch einen Lösungsansatz: Das engagierte Individuum.

Jenny Davin ist ein solches engagiertes Individuum: Bei „Das unbekannte Mädchen“ sind es zunächst einmal die Selbstvorwürfe, die sie antreiben, aber auch ihr unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen, ihr Pflichtbewusstsein und ihre Hingabe an ihren Beruf und ihren ärztlichen Eid. Und genau hier zeigt sich der optimistische Humanismus der Brüder Dardennes. In dieser Versuchsanordnung ist diese Detektiv-Ärztin ein Ideal: Sie ist eine moralische Gestalt, die personifizierte Gewissensfrage. Immer wieder hält sich die Kamera an ihr fest, positioniert sie in die Mitte des Bildausschnitts: Jenny telefonierend vor der weißen Wand im Krankenhaus, vor dem Waldpanorama, vor den braun-orangen Vorhängen ihrer kleinen provisorischen Praxiswohnung. Und als Ideal, als Projektionsfläche, bedarf ihr Handeln keiner Einbettung in einen narrativen Kontext, eine persönliche Vorgeschichte oder einen privaten Rahmen, der ihr Handeln erklären, aber auch abschwächen würde.

Das unbekannte Mädchen“ ist so etwas wie ein soziales Experiment unter idealen Bedingungen, aber auch ein Statement für mehr Zivilcourage und eine mögliche Antwort auf eine Gewissensfrage, die letztendlich nach dem Abspann des Films an das Publikum weiter gegeben wird.
Und genau hier liegt, bei allen Vorwürfen, die man dem Film machen kann, über eine vielleicht ein wenig flache Protagonistin und den mangelnden Drive in der Narration, der größere Zusammenhang vor dem dieser Film sich leise aufspannt.

Tatiana Braun

Das unbekannte Mädchen„, Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne, DarstellerInnen: Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, Jérémie Renier, Christelle Cornil, Olivier Gourmet, Fabrizio Rongione und Nadège Ouedraogo. Kinostart: 15. Dezember 2016

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