DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT von Joachim Trier


DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT © Oslo Pictures

Versuchungen als Lebensentscheidungen

Die fremden Lippen sind wenige Millimeter entfernt, nur der Zigarettenrauch ist dazwischen. Einatmen. So viel Ahnung und Versuchung in solchen kleinen Partikeln. Und wieder ausatmen. Wenn ich den Anderen nicht küsse, ist ja nicht wirklich was passiert, oder? Julie ist sich der Grauzone aber sehr bewusst. Denn sie ist – wenn sie nicht grad fremde Hochzeiten crasht und dort betrunken Zigaretten schnorrt – an Aksel (Anders Danielsen Lie) vergeben, und Eivind (Herbert Nordrum), ihr Rauchpartner in crime, mit Sunniva (Maria Grazia Di Meo) liiert. Und eigentlich, ja eigentlich sind sie doch in ihren „echten“ Beziehungen glücklich. Eigentlich.

Grenzverwischungen, Lebensentscheidungen, Impulsivität und dieses crazy Mitte-20-sein-und-plötzlich-macht-sich-die-Welt-auf, all das sind die Themen von Joachim Triers Publikums- und Kritikerliebling DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT. Leichtfüßig tanzt der Film mit den Protagonist*innen von der Komödie ins Dramatische und wieder zurück, immer Julie folgend, der Protagonistin. Da ist Julies Versuch, die erste große Liebe mit dem viel älteren und erfolgreichen Comicbuchautor Aksel zwischen Bücherregalen und Kaffeeresten alltagstauglich zu gestalten, mit ihm Projekte zu entwickeln und ihn dann weiterhin leidenschaftlich zu begehren. Aber auch zu merken, dass sie vielleicht noch nicht da ist, wo sie hin will – vor allem mit sich selbst und ihren schönen Ideen für die eigene Selbstverwirklichung. Die Entscheidungsunfähigkeit beziehungsweise die Anziehung völlig anderer Lebensentwürfe ist bei Julie auch beruflicher Natur: Sie bricht das Medizinstudium an, um Psychologie zu studieren – aber will sie nicht eigentlich lieber Fotografin sein? Eivind als Möglichkeit des Ausbruchs und Neuanfangs ist damit von Minute eins an natürlich Projektion und reale, sich wahnsinnig gut anfühlende Versuchung.

Im Grunde hat man DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT, der den dritten Teil von Joachim Triers Oslo-Trilogie bildet, schon in der einen oder anderen filmischen Form gesehen, bevor man ihn angeschaut hat: Narrativ bietet der Film wenig Neues aus der Kategorie romantische Komödie – zumindest, wenn man gern Serien wie FLEABAG oder I MAY DESTROY YOU über komplexe weibliche Charaktere schaut oder sich nicht nur Hollywood-Pappmaché reinzieht. Auch offen darüber zu reden, auch in #MeToo-Zeiten Oralsex zu mögen, macht noch kein überraschendes Drehbuch. Und trotzdem: Da ist echte Passion am Werk und die Möglichkeit, noch mal so richtig schön selbst in Erinnerungen – an Schwärmereien, oft nur vermeintlich verpasste Chancen, beruflich und privat – einzutauchen. Auch weil die Fallhöhe in DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT sehr niedrig ist und nicht mehr will als emotionale Identifikation. Denn es geht allen ziemlich gut, selbst Eivind strahlt als Barista lässigen, wohlsituierten Start-up-Success aus. Dass der Film trotzdem nicht nur Spaß macht, sondern sogar ein bisschen Eindruck hinterlässt, ist das Verdienst von Renate Reinsve (die in Cannes für ihre Darstellung ausgezeichnet wurde), Anders Danielsen Lie und Herbert Nordrum, die allesamt die Menschen zwischen den kleinen und großen Lebensentscheidungen grandios spielen: Die Leidenschaft bitzelt unsagbar sinnlich, die Trennungen zwicken in der Herzgegend rum und am Ende gibts noch eine Wendung, da kann man sich sogar den tränenfeuchten Wangen nicht erwehren. Manchmal reicht das ja auch schon für ein völlig erfüllendes Filmerlebnis.

Marie Ketzscher