Die Zeit zerstört alles


VORTEXT © Rapid Eye Movies
VORTEX © Rapid Eye Movies

VORTEX von Gaspar Noé

Als VORTEX bei den Filmfestspielen von Cannes 2021 Premiere feierte, war die allgemeine Überraschung groß. Hatte der Berufs-Provokateur Gaspar Noé mit seinem filmischen Schaffen bis dahin stets explizite Grenzüberschreitungen forciert, so gab es hier keine wilden Sexeskapaden, lysergische Drogenexperimente oder drastische Gewaltexzesse zu bewundern. Stattdessen widmete er sich auf weitaus subtilere Weise einem der großen gesellschaftlichen Tabus unserer Gegenwart, welches im Kino nur selten unmittelbar thematisiert wird: dem Prozess des Sterbens.

Dabei ist er seinen stilistischen Markenzeichen treu geblieben, wie bereits der hochstilisierte Abspann gleich zu Beginn verdeutlicht, der in umgekehrter Richtung von unten nach oben über die Leinwand läuft. Ein ergrautes Ehepaar, gespielt von der französischen Darstellerin Françoise Lebrun (LA MAMAN ET LA PUTAIN) und dem italienischen Giallo-Maestro Dario Argento (SUSPIRIA), stößt auf der Dachterrasse einer Pariser Wohnung auf das Leben an. Doch als es eines Nachts zusammen im Bett liegt, wird die Bildgestaltung in Form eines Splitscreens geradezu entzwei gerissen. Die linke und rechte Bildhälfte folgen daraufhin den synchronen Abläufen ihrer Existenz in der gemeinsamen Wohnung, doch das einst miteinander geteilte Leben verliert zunehmend an Berührungspunkten.

„Die Mutter“, eine ehemalige Psychoanalytikerin, ist an einer rapide fortschreitenden Variante der Demenz erkrankt. „Der Vater“, der lange als Filmkritiker aktiv war, nutzt seinen Ruhestand, um ein Buch über Filme und Träume zu schreiben. Er versucht, sich um seine Partnerin zu kümmern, manchmal liebenswürdig, manchmal abweisend, doch dabei stehen ihm seine eigenen altersbedingten körperlichen Leiden im Weg. Während er an seinem Schreibtisch arbeitet oder eine alte Liebschaft aus der Vergangenheit am Telefon wieder aufleben lassen will, irrt sie labyrinthartig durch das bis zur Decke mit Erinnerungsstücken voll gestellte Apartment und verliert zunehmend die Fähigkeit, sich der Außenwelt mitzuteilen. Gerade in diesen schleichenden und unspektakulären Vorgängen offenbart sich eine radikale Alltäglichkeit, die durch den zunehmenden körperlichen und geistigen Kontrollverlust der beiden Figuren ein geradezu bedrohliches Potenzial entwickelt: ein angelassener Gasherd, ein Irrweg durch die Straßen und Geschäfte in der eigentlich so vertrauten Nachbarschaft, ein Wirrwarr aus Tabletten und Medikamenten.

VORTEX Trailer

Ab und an kommt „der Sohn“ (Alex Lutz) mit dem kleinen Enkel zu Besuch und versucht, ihnen zu helfen. Er will sie überreden, eine kleinere Wohnung in einem Pflegeheim zu beziehen. Doch der Vater weigert sich in einer der eindrucksvollsten Szenen vehement, sein Lebenswerk aus all den Büchern, Filmrollen, VHS-Kassetten und Memorabilien hinter sich zu lassen. Der Sohn wiederum hat mit den eigenen Problemen einer langjährigen Drogenabhängigkeit und seinen Aufgaben als alleinerziehender Vater zu kämpfen. Gerade in den kleinen Gesten und verhaltenen Momenten der Zuneigung zeigt der Film sich zwischen all der Tristesse und Hoffnungslosigkeit versöhnlich gegenüber den menschlichen Makeln und den Schatten aus der Vergangenheit.

Noé nutzt das geteilte Bildformat mit den parallel ablaufenden Handlungen von Mutter, Vater und Sohn, um ihre unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben (und das Sterben) darzustellen. Häufig befinden sie sich dabei an verschiedenen Orten. Manchmal, wenn sie miteinander agieren, suggeriert der entzweite Blickwinkel ein Gefühl der Entfremdung voneinander. Der Großteil der Handlung basiert auf Improvisationen der Darsteller, die die Figuren eindrucksvoll verkörpern, und einer Faszination mit der zerstörerischen Unberechenbarkeit des Lebens, die der Regisseur aus seiner eigenen Erfahrung mit einer plötzlichen Hirnblutung im Jahr 2019 gezogen hat. Vor allem in dieser experimentellen Inszenierungsweise, die in Zusammenarbeit mit seinem Stamm-Kameramann Benoît Debie entstanden ist, unterscheidet sich VORTEX von Michael Hanekes thematisch ähnlich gelagertem Meisterstück AMOUR. Während Haneke auf gewohnt strenge Weise eine hoffnungslose humanistische Geschichte erzählte, will Noé diese Auseinandersetzung mit dem unaufhaltsamen Verlust des Lebens in all ihrer Negativität ästhetisch erfahrbar machen. Dies gelingt ihm über die ausschweifende Spieldauer von 2 1/2 Stunden größtenteils, auch wenn seine intuitive Herangehensweise stellenweise zu kalkuliert anmutet.

VORTEX funktioniert als intimes Porträt über das Altern, das Abschied nehmen und den Tod. Ein forderndes und stellenweise auch schmerzhaftes Filmerlebnis, in dem Noé seine erschütternden inszenatorischen Mittel gezielt einzusetzen weiß.

Henning Koch

VORTEX, Regie: Gaspar Noé, Mit: Françoise Lebrun, Dario Argento, Alex Lutz