DU HAST DAS LEBEN VOR DIR (OT: LA VITA DAVANTI A SÉ) von Edoardo Ponti


Sophia Loren in DU HAST DAS LEBEN VOR DIR © REGINE DE LAZZARIS AKA GRETA

Sophia Loren in DU HAST DAS LEBEN VOR DIR © REGINE DE LAZZARIS AKA GRETA

Zwischen Märchen und Vergangenheitsbewältigung

Sein Leben vor sich, aber auch schon viel hinter sich, hat der zwölfjährige Waise Momò (Ibrahima Gueye), der nach einem Hin-und-Her zwischen Jugendamt und Pflegepersonen bei der ruppigen Madame Rosa landet – mit dieser Rolle ist Sophia Loren auf der Leinwand – oder eher auf dem Bildschirm – zurück. Die Erzählung einer sozialen Misere, die Rührseligkeit der Geschichte, die Aufnahmen in den Straßen – einige Sujets in DU HAST DAS LEBEN VOR DIR lassen Erinnerungen an große Zeiten des italienischen Kinos wach werden, durch das Sophia Loren als junge Frau zum Weltstar wurde. Ihr Sohn Edoardo Ponti führte Regie für die auf dem gleichnamigen Roman von Romain Gary basierende Netflix-Produktion.

Selbst ehemalige Prostituierte nimmt Madame Rosa aus Solidarität die Kinder anderer Frauen bei sich auf, die in Bari der Sexarbeit nachgehen (müssen). Momò legt aus Mangel an Bezugspersonen ein raues Verhalten an den Tag. Eine „weibliche Figur“ würde ihm gut tun, so der Vermittler Doktor Cohen (Renato Carpentieri). Loren spielt eine Madame Rosa, die durch ihre ebenso raue Art auch ihrem neuen Schützling gegenüber schroffer handelt als erwartet und so vermeidet es der Film auch, gütige Mutterfigurenklischees zu bedienen und in eine Geschichte abzusinken, die in erster Linie sie als weiße Retterin einer marginalisierten BIPOC Person zelebriert.

Beide Hauptfiguren haben eine düstere Vergangenheit hinter sich. Diese Hintergrundgeschichten setzt Ponti aber nicht ständig als Handlungsmotivation ein, so empfängt die Holocaust-Überlebende Rosa trotz ihrer schlimmen KZ-Erfahrungen nicht jede*n Hilfsbedürftige*n sogleich mit offenen Armen. Momó holt sich die fehlende Nähe in seinen Träumen: Darin kuschelt er mit einem zutraulichen Löwen – die CGI-Animation verleiht märchenhafte Stimmung – und verdrängt des Tags die Sehnsucht nach seiner Mutter, indem er gegen jeden Erwachsenen, außer gegen den Macho-Drogenboss des Viertels, rebelliert.

Für diesen vertickt Momò eifrig. Szenen des Dealens an Straßenecken lassen etwa an LA PARANZA denken, auch wenn darin eine andere Grundstimmung vorherrscht – Pontis Film nimmt nicht zuletzt durch hohe Ausleuchtung und zahlreiche schwungvolle Kamerafahrten nie einen düsteren Ton an. Von Netflix akquirierte bzw. produzierte italienische Produktionen haben eine hohe Quote an Plots mit Drogen und Mafiageschichten. Enttäuschend, dass in DU HAST DAS LEBEN VOR DIR die einzige Schwarze Person neben Momò auch nur in diesem Milieu eine Rolle spielen darf. Für andere Figuren marginalisierter Gruppen wie den muslimischen Händler Mr. Hamil (Babak Karimi) oder die mit Rosa befreundete Transfrau Lola (Abril Zamora) entwickelt der Film hingegen Nebengeschichten, die nicht bloß zu reinen Abziehbildern verfallen.

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