„Holidays By The Sea“ von Pascal Rabaté


Dialog zwischen Regisseur und Publikum, Foto: movienet

Dialog zwischen Regisseur und Publikum, Foto: movienet

OCNI im Filmuniversum

Der zweite Film des französischen Comiczeichners und Autoren Pascal Rabaté begleitet eine Vielzahl diverser Figuren einen Tag lang an einem französischen Badeort. Die heterogene Auswahl umfasst unter anderem eine Witwe und ihre Tochter bei der Feuerbestattung des Ehemannes, zwei Kumpels, die in einem Golf-Caddy unterwegs sind, eine Familie, die an eine paramilitärische Pfadfindergruppe erinnert und ein Rentnerehepaar mit maßgeschneidertem Auto und Ferienhaus. Unerwartet in dem konservativ anmutenden Szenario eines dörflichen Badeortes sind der Mann, der sich in einem Hotelzimmer heißen SM-Sex verspricht, und das lesbische Punkerpärchen mit dem dazugehörigen Hund. Alle sind durch Beziehungen, Interaktionen oder zufälligen Begegnungen in einem Gewebe menschlicher Schicksale miteinander verbunden.

Pascal Rabaté bezeichnet „Holidays By The Sea“ als ein OCNI (Objet Cinématographique Non Identifié), was so viel wie „Nicht einordbares filmisches Objekt“ bedeutet. Eine treffende Bezeichnung für einen Film, der mehr Gemeinsamkeiten mit Jacques Tatis Klassiker „Die Ferien des Monsieur Hulot“ von 1953 aufweist als mit dem aktuellen Kino – vom Sonderfall „The Artist“ abgesehen. Obwohl Pascal Rabaté sich nicht für eine so rigorose Übernahme der Stummfilmästhetik wie in „The Artist“ entscheidet, so sind die markanteste Züge von „Holidays By The Sea“ der Verzicht auf das gesprochene Wort und die beinahe choreographische Inszenierung der Körper und die minimalistische Bildgestaltung.

Das Publikum wird zunächst zwischen der radikalen Künstlichkeit des filmischen Stils und der Vertrautheit der Figuren hin und her gerissen. Erst im Verlauf der Erzählung erfolgt dann eine Verlagerung des Schwerpunktes von der Form zu der menschlichen Dimension der kleinen Momentaufnahmen. Ohne einen Protagonisten, der die Zuschauer durch die Vielzahl von unwahrscheinlichen und komischen Situationen leitet, macht sich eine gewisse Orientierungslosigkeit breit. Was soll man schon von einer jungen Frau halten, die in einem heruntergekommenen Supermarkt eine kleine Flasche Wasser kauft, während der Verkäufer an der Kasse die Strichcodes mit Lineal und Stift nachzeichnet? Oder der erwachsene Mann, der voller Begeisterung am Strand einen roten Drachen mit aufgemalten Augen steigen lässt? Das ganze droht zu einer Abfolge belustigende Gags zu werden, ohne weitere Pointe. Die Frage drängt sich auf, ob es nicht doch ein zu großes Wagnis war, mit solchen stilistischen Mitteln für das heutige Publikum einen Film zu drehen. Aber dann fangen kleine Veränderungen an stattzufinden, die das Dasein der Figuren in ihrem Wesen betreffen. Aus den ganzen Geschichten, die zunächst willkürlich erschienen, ergeben sich kleinere und größere Konflikte, die dem Zusammentreffen von Vorstellungswelt und Realität geschuldet sind. Die Charaktere erwachen und nehmen ihre Schicksale selbst in die Hand. Das alte Ehepaar erwacht aus der Routine und findet seinen Weg zur Leidenschaft zurück. Die Witwe fängt an, ihren Verlust zu akzeptieren. Die Entscheidung für diese „nicht einordbare“ Filmsprache macht es erst möglich, die Geschichten zu erzählen, indem sie eine Welt konstruiert, die nicht von Wörtern und Diskursen überschwemmt ist und aus Körperlichkeit und Begehren besteht.

Die Leichtigkeit des Films enthüllt eine Tiefe, die erst nach dem Verlassen des Kinosaals langsam durchsickert. Im Gegensatz zum Schweigen der Charaktere, trägt Rabatés Film einen Dialog zwischen Regisseur und Publikum aus, in dem es um Sehgewohnheiten, Erwartungen und  Herausforderungen geht. Diese Auseinandersetzung deutet auf etwas hinaus, das weit mehr als die Filmsprache und narrativen Mittel des Kinos betrifft, nämlich auf eine Reflexion über die Maßstäbe des menschlichen Daseins in der Gesellschaft.

Maria Llaveria

Holidays By The Sea Regie: Pascal Rabaté , Darsteller: Francois Morel, Jacques Gamblin, Dominique Pinon, Maria de Medeiros, Marie Kremer, François Damiens, Arsène Mosca, Kinostart: 5. Juli