„Hüter der Erinnerung – The Giver“ von Phillip Noyce
Geflasht und wissbegierig von dieser Erfahrung, steckt Jonas voller Tatendrang. Seine Freunde sollen unbedingt erleben, was er erlebt hat. Doch schnell muss er feststellen, dass das beinahe unmöglich ist. Nicht nur, dass er nicht über seine Aufgaben nicht sprechen darf, auch sind seine Freunde von ihren Injektionen so vernebelt, dass sie seine Begeisterung gar nicht teilen können. Wie Jonas erfährt, steckt hinter dem morgendlichen Medikament in Wahrheit eine Droge, die die Gefühle auf Eis legt und verhindert, dass die Menschen beispielsweise Farben wahrnehmen können. Von nun an umgeht Jonas seine tägliche Medikation, um die neuen Eindrücke intensiver spüren zu können. Er entfernt sich schnell noch weiter von dem, was die Gemeinschaft und der Ältestenrat als vorbildlich erachtet: Er entdeckt seine Liebe zu seiner Schulfreundin Fiona, will ihr zeigen, was Gefühle sind und seiner Schwester Musik und Tanz nahe bringen. Jonas zieht mit seinem Überschwang die Aufmerksamkeit des Ältestenrats auf sich, der das gleichgeschaltete, monotone Leben durch seine Unvorsicht gefährdet sieht.
Früher gab es mehr, als sich je ein Mensch dieser idealen Welt vorstellen könnte. Davon weiß aber nur der Hüter und auch Jonas beginnt zu begreifen. Neben seinen zärtlichen Gefühlen schleichen sich nachts plötzlich Träume ein; er lernt Freude, Schmerz und Lachen kennen. Allerdings trifft er in den Erinnerungen des Hüters auch auf Bilder des brutalen Mordens und kann nicht begreifen, wie Lebewesen zu so etwas fähig sein können. In diesem Zusammenhang eröffnet der Hüter Jonas das düstere Geheimnis des Ältestenrats: die alten Menschen und zahlreichen Babys, die „freigegeben“ werden, verschwinden nicht nach „Anderswo“, wie stets vorgegeben, sie werden getötet. Der Schock sitzt tief, in dieser idealen Welt hat niemand das Morden abgeschafft, sondern es lediglich kultiviert. Diese Vorgänge hinterfragt allerdings keiner der gut funktionierenden Menschen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass man nicht über den Rand der ihnen bekannten Welt treten darf. Verstrickungen und der Rückhalt des Hüters ermutigen Jonas dazu, das Unmögliche zu wagen, die Grenze zu überqueren und auf diesem Weg die Erinnerungen für alle wieder verfügbar zu machen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, gegen den Ältestenrat und für die Zukunft der Welt, in der Jonas leben will.
„Hüter der Erinnerung“ stellt die Frage, wie erstrebenswert eine totale Harmonie ist, wenn der gezahlt Preis, so hoch ist. Wenn die negativen Dinge nur gemeinsam mit den positiven ausgelöscht werden können und die Lösung Gleichschaltung lautet. Durch Jonas unvoreingenommene Augen lernt der Zuschauer zugleich die uns bekannte und ’normale‘ Welt einmal mehr wertzuschätzen. Die Thematik ist aktueller denn je und wird es vermutlich auch immer bleiben: die Menschen und das Leid, das sie verursachen können, werden ebenso aufgegriffen wie die immer bestehende Hoffnung und Möglichkeit des Guten. Die Frage ist nur, wie weit man für das Wohl aller Menschen und die Balance gehen darf.
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Fantasy-Bestseller von Lois Lowry und ist mit absoluten Schauspielgrößen besetzt. Neben Meryl Streep, Jeff Bridges und Alexander Skarsgård hauchen Brenton Thwaites und Odey Rush der konstruierten Gesellschaft ein beängstigend funktionstüchtiges Leben ein. Besonders gelungen ist die Darstellung der Entwicklung des von Thwaites gespielten Jonas auf der visuellen Ebene. Seine sich verändernde Wahrnehmung der Welt schlägt sich in der Farbgebung der Szenerie nieder. Wo zuerst Schwarzweiß dominiert, mengen sich während seiner Lehre allmählich verschwommene Farben unter, um schließlich in einer Farbpracht aufzugehen.
Cindy Böhme
„Hüter der Erinnerung“ („The Giver„), Regie: Phillip Noyce, DarstellerInnen: Meryl Streep, Katie Holmes, Jeff Bridges, Cameron Monaghan, Alexander Skarsgård, Brenton Thwaites, Odeya Rush, Taylor Swift, Kinostart: 2. Oktober 2014, auf DVD ab 5. Februar 2015