„Miss Hokusai“ von Keichii Hara
Feuerdrachen und rote Blüten
Edo 1814, auf der großen Brücke über den Sumida-Fluss, im Herzen der japanischen Hauptstadt – dem heutigen Tokio -, herrscht ein reges Treiben: Kaufleute und Handwerker, Bauern und Samurai, Kurtisanen und Künstler schieben sich aneinander vorbei. Mittendrin, eine junge Frau im weiß-gemusterten Kimono mit Tusche im Gesicht: Die stolze O-Ei, Tochter des berühmten Künstlers Tetsuzo, besser bekannt als Katsushika Hokusai.
Auch wenn die berühmteste japanische Animationsfilmschmiede, die für zahlreiche international vielbeachtete Produktionen, wie unter anderem „Prinzessin Mononoke“ oder „Chihiros Reise ins Zauberland“ sich 2014 erst einmal in den verlängerten Winterschlaf verabschiedete, hat das japanische Anime auch jenseits von Miyazaki und Co. so einige Schmuckstücke zu bieten, wie den sehr poetischen „Miss Hokusai“ von Regisseur Keichii Hara in Zusammenarbeit mit Production I.G., dem Studio, das sich unter anderem auch für „Ghost In The Shell“ verantwortlich zeichnet.
Keichii Hara, unter anderem auch Regisseur der Fernsehserie und des gleichnamigen Films „Crayon Shin-shan“ sowie ein alter Bekannter des internationalen Animationsfilmfestivals in Annecy, wo er 2011 für seinen Film „Colourful“ und 2015 auch für „Miss Hokusai“ mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, holte sich für das Design des Films Yoshimi Itazu mit ins Boot, der unter anderem auch für Hayao Miyazakis vorerst letztes großes Filmprojekt aus dem Jahre 2014 „Wenn der Wind sich hebt“ als Chef-Animator tätig war.
„Miss Hokusai“ basiert auf dem Manga „Sarusuberi“ der japanischen Historikerin und Zeichnerin Hinako Sugiura und ist benannt nach dem so genannten roten Sommerflieder, der von Juli bis September in voller Blüte steht und sinnbildlich für die unerschöpfliche Kreativität der Hokusais stehen soll.
In poetischen Bildern erzählt der Animationsfilm die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, die zahlreiche Grafiken und Bilder im Namen ihres berühmten Vaters erschuf und zusammen mit ihm und dessen Lehrlingen und Gehilfen in so etwas wie einer Junggesellen-WG hauste. Über O-Ei, die erste Tochter aus zweiter Ehe des bis heute international wohl prominentesten japanischen Künstlers, der so ikonische Bilder geschaffen hat, wie „Die große Welle vor Kanagawa“ (hier bei Wikipedia) aus dem Zyklus „36 Ansichten des Berges Fuji“ ist selbst kaum etwas bekannt, dennoch ist ihre Existenz belegt. Die meisten ihrer Zeichnungen signierte sie aus marketingtechnischen Gründen mit dem Namen ihres Vaters, der bereits zu Lebzeiten ein angesehener und berühmter Künstler war. Katsushika Hokusai, der sich im Laufe seines lebenslangen Schaffens – er starb mit 90 Jahren quasi mit dem Pinsel in der Hand und dem letzten Satz auf den Lippen: „Hätte der Himmel mir weitere fünf Jahre geschenkt, wäre ich ein großer Maler geworden.“ – mit jeder neuen künstlerischen Phase umbenannte, war unter anderem auch unter dem Namen Tetsuzo oder dem sprechenden Spitznamen „Alter verrückter Maler“ (engl.: „Old Man Mad About Drawing“) bekannt.
Von ihrem Vater erbte O-Ei oder auch Katsushika-Oi nicht nur das außerordentliche künstlerische Talent und den Willen zur absoluten Hingabe an die Kunst, sondern auch ihre Dickköpfigkeit. Sie heiratete wohl irgendwann um 1819 einen Künstlerkollegen, kehrte nach kurzer Zeit jedoch zurück zu ihrem Vater bis sie nach dessen Tod dann, irgendwann nach 1857 spurlos verschwand.
Vater und Tochter sollen mehr als neunzig Mal umgezogen sein, vernachlässigten den Haushalt und unterbrachen das Zeichnen wohl nicht einmal, um das gelieferte Essen zu sich zu nehmen. Sie hausten wohl so lange im eigenen Müll, bis es nicht mehr auszuhalten war und sie sich nach einer neuen Bleibe umsehen mussten: „Wir sind Vater und Tochter, haben zwei Pinsel und vier Essstäbchen – wir kommen überall klar.“
„Miss Hokusai“ zeigt ein Jahr aus dem Leben dieser eigenwilligen Frau: Zu diesem Zeitpunkt ist sie ungefähr 23 Jahre und ihr Vater Tetsuzo etwa 55 Jahre alt. Hokusai hat einen Ruf als begnadeter Maler, dem es gelingt sowohl zwei kleine Spatzen auf ein winziges Reiskorn zu zeichnen als auch einen gigantischen Dharma auf einem 180 Quadratmeter großen Blatt. Er ist ein exzentrischer, sarkastischer Mann, immer ein wenig ungepflegt und den irdischen Genüssen größtenteils abgeneigt – lediglich für Süßigkeiten kann er sich begeistern.