„Miss Hokusai“ von Keichii Hara



Als Künstlerin unter Künstlern wird O-Ei respektiert und lebt als gleichberechtigtes Mitglied mit den Lehrlingen und Gehilfen ihres Vaters in dem gemeinsamen Wohnatelier. Die junge Frau ist fasziniert von Feuer- und Drachenzeichnungen, besonders bewundert wird sie jedoch für ihre kunstfertigen Frauenbilder. Als Tetsuzos begabteste Schülerin, ist sie an der Entstehung zahlreicher seiner Bilder maßgeblich beteiligt, wenn sie diese nicht teilweise sogar komplett selbst malt. Ihre beiden Kollegen, der anzügliche Zenjiro und der etwas ältere Hatsuguro machen ihr immer wieder mehr oder weniger deutliche Avancen, welche sie jedoch mit spitzer Zunge geschickt abzuwehren weiß, obwohl sie in Hatsuguro heimlich verliebt ist.
Wenn sie gerade keinen Pinsel in der Hand hält, kümmert sie sich liebevoll um ihre kleine blinde Schwester O-Nao, taucht mir ihr ein in das großstädtische Gewimmel in den Straßen des historischen Edo, nimmt sie mit auf eine sommerliche Bootstour und zeigt ihr den Schnee auf den Feldern vor der Stadt. O-Ei ist eine feine Beobachterin und beschreibt ihrer Schwester geschickt die Vielzahl an Eindrücken, Farben und Texturen, welche sie auf ihren Ausflügen erfahren. O-Nao, die sehr kränklich ist, wächst nicht bei ihrer Mutter, sondern in einem Tempel auf, der berühmte Vater besucht sie nur selten: Den großen Künstler plagt die Angst vor Krankheit und Tod. Über seine Zeichnungen, wünscht er so etwas wie Unsterblichkeit zu erlangen und die Tatsache, dass seine jüngste Tochter blind ist, empfindet er als persönliche Bestrafung oder Fluch.
Zu Recherche- und Inspirationszwecken besucht O-Ei mit ihrem Vater und dessen Lehrlingen unter anderem auch die Vergnügungs- und Geishaviertel der Stadt und spielt mit dem Gedanken, sich in Ermangelung eines geeigneten Partners von einer männlichen Geisha in der Liebe unterweisen zu lassen, um ihre zeichnerischen Fähigkeiten im Bereich der bei den Kunden sehr beliebten Erotika zu vertiefen – ein Unterfangen, welches kurz von dem Vollzug des tatsächlichen Aktes jedoch zu ihrer Erleichterung an der so plötzlichen wie nachhaltigen Erschöpfung ihres potenziellen Liebhabers scheitert.

Die Stärke des Films liegt nicht unbedingt in der Kohärenz der Erzählung als vielmehr in den kunstvollen Zeichnungen sowie der sinnlichen und märchenhaften Poetik der animierten Bilder. Die Geschichte entwickelt sich hier nicht linear, sondern eher episodisch, orchestriert entlang der vier Jahreszeiten und unterlegt von einem zeitgenössisch-rockigem Soundtrack.
Miss Hokusai“ ist vor allem ein Film über die Macht der Bilder: Den Zeichnungen der jungen Künstlerin scheinen übernatürliche Kräfte inne zu wohnen, welche sie noch nicht einzuschätzen oder zu lenken weiß. Und genauso wie ihre gemalten Drachen und Dämonen nachts zum Leben erwachen und die Besitzer der Bilder in ihrem Schlaf heim suchen, so scheinen die animierten Bilder des Films, über die Leinwand hinaus zu wachsen: Als O-Ei beispielsweise mit der Glut ihrer Pfeife das Bild eines riesigen Drachen ihres Vaters ruiniert und nun zur Einhaltung der Frist das Werk in nur einer Nacht alleine fertig stellen muss, scheint das Glühen der Drachennüstern und der um ihn herum stiebenden Funken ganz ohne 3D-Technik geradezu in den Zuschauerraum hinein zu leuchten und den Nachthimmel über Edo in Flammen zu setzen.
Keichii Hara ist es gelungen, einen Animationsfilm zu schaffen, der alle Sinne anspricht und neben visuellen und akustischen Elementen auch das Taktile und Olfaktorische in den Mittelpunkt rückt und die Berührung von kühlem Wasser an einem heißen Sommertag oder auch die Zartheit der Blüten des roten Sommerflieders in der Hand der kleinen O-Nao sinnlich erfahrbar macht. Aber auch die erotischen Zeichnungen O-Eis sowie die bizarre Szene der schlafenden Geisha, deren Hals sich des Nachts unendlich verlängert – tragen zu einer erotisch-übersinnlichen Aufladung bei, die vor allem implizit ist. Dabei zeugen die Zeichnungen von Yoshimi Itazu von sehr viel Liebe zum Detail: In jedem Frame gibt es etwas zu entdecken, immer wieder fließen berühmte Bilder des unsterblichen Malers in die Filmbilder mit ein und erwecken so die ikonischen Zeichnungen Hokusais zum Leben.

Leider bleiben bei alledem jedoch die Figuren auf der Strecke: Wir erhalten zwar einen interessanten Einblick in das großstädtische Edo des 19. Jahrhunderts und das Leben des großen Künstlers Katsushika Hokusai, über „Miss Hokusai“ erfahren wir allerdings nur sehr wenig.
Es ist unbestritten, dass Katsushika-Oi für die damalige Zeit eine ungewöhnliche, aber auch sehr kluge, stolze, schlagfertige und selbstständige Frau war, über sie als Person, als einzige Frau in einem damals eigentlich noch typischen Männerberuf, ihre innersten Gefühle und Beweggründe erfahren wir jedoch nicht viel.

Und so hilft auch leider „Miss Hokusai“ nicht, die von er Kunstgeschichte beinahe vergessene O-Ei aus dem Windschatten ihres berühmten Vaters zu holen und Licht in das Dunkel um die Existenz dieser talentierten Künstlerin zu bringen. Für Freunde gepflegter japanischer Animationskunst lohnt sich der Film jedoch allemal.

Tatiana Braun

Miss Hokusai„, Regie: Keichii Hara; Kinostart: 16. Juni 2016

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