„Nächster Halt: Fruitvale Station“ von Ryan Coogler



Coogler stellt Oscars Tagesablaufs unspektakulär und nicht sensationalistisch dar. Die Handkamera folgt ihm meist in einer halbnahen Einstellung und die sachliche Inszenierung der Drehorte im Bay Area vermittelt dem Zuschauer einen authentischen Einblick in die Lebenssituation und das lokale Umfeld des Protagonisten. Dazu trägt auch das glaubwürdige und lebensnahe Spiel der Darsteller bei. Die Ereignisse werden chronologisch über einen Tag hinweg geschildert, was Erinnerungen an Mathieu Kassovitz‘ großartige urbane Milieustudie „La Haine“ hervorruft. Einzig die Rückblende auf Oscars Gefängnisaufenthalt durchkreuzt dieses Konzept. Hierdurch wird kurzzeitig die Unmittelbarkeit des Gezeigten ausgehebelt, was in diesem Zusammenhang unpassend wirkt.

Afroamerikanische Lebenssituationen im kalifornischen Bay Area

Der Regisseur versteht es, die Geschichte nicht als emotional kalten und abweisenden sozialen Realismus zu präsentieren. Die Härte des Alltags und die soziale Benachteiligung werden gezeigt, stehen dabei aber nicht im Zentrum des Films. Oscar wird als ein grundsätzlich lebensfrohes und liebevolles Individuum mit all seinen Stärken und Schwächen dargestellt. Durch die Fokussierung des Tagesablaufs auf den Jahreswechsel sowie die Vorwegnahme des tragischen Ausgangs durch die dokumentarische Handyaufnahme zu Beginn, wird der losen Struktur der Handlung ein klarer Spannungsbogen verliehen. Vor allem der verhängnisvolle Abschluss ist packend und intensiv inszeniert, ohne dabei die beobachtende Perspektive des Films zu vernachlässigen.

In den vergangenen Jahren hat sich das Sundance Film Festival mit Auszeichnungen von Filmen wie Beasts of the Southern Wild oder „Ballast“ erfolgreich als sozialkritischer Vermittler von afroamerikanischen Lebenssituationen hervorgetan. So wurde „Fruitvale Station“ dort im vergangenen Jahr mit dem Großen Preis der Jury und dem Publikumspreis ausgezeichnet. Digitalvideos wie das zu Beginn gezeigte, welche Polizeigewalt und soziale Benachteiligungen gegenüber Afroamerikanern dokumentieren, stellen in Zeiten von Videostreaming und sozialen Netzwerken keine Seltenheit mehr da. Nahezu jeder Bürger hat die Möglichkeit, derartige Fälle audiovisuell festzuhalten und zu verbreiten, weshalb jedoch auf kontraproduktive Weise die Gefahr einer Gleichgültigkeit der Konsumenten gegenüber dem Gezeigten besteht. Dies liegt auch daran, dass die Hintergründe, welche zu derartigen Vorfällen führen, dabei nicht ausreichend thematisiert werden. Feststellen lässt sich dies im Vergleich zur öffentlichen Reaktion in den USA auf die Veröffentlichung des Rodney King Videos zu Beginn der 90er Jahre. Dementsprechend ist es Ryan Coogler hoch anzurechnen, dass er mit „Fruitvale Station“ nicht nur respektvoll und konstruktiv zu dieser Debatte beiträgt, sondern unabhängig davon auch ein bemerkenswertes und vielschichtiges Charakterporträt geschaffen hat.

Henning Koch

Nächster Halt: Fruitvale Station„, Regie: Ryan Coogler, Darsteller: Michael B. Jordan, Melonie Diaz, Octavia Spencer, Kevin Durand, Ahna O’Reilly, Kinostart: 1. Mai 2014, auf DVD ab 2. Oktober 2014

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