Oscarverleihung 2023 – eine Prognose, Teil #3
Die besten Filme
Es ist soweit. In wenigen Stunden werden in Los Angeles zum 95. Mal die Oscars verliehen. Nachdem ich mir alle anderen Kategorien angeschaut habe, geht es heute um die Königskategorie Bester Film und um die Awards für Dokumentarfilm, Animationsfilm und Internationaler Film. Neben den im Vorfeld vergebenen Precursor Awards, ist auch ein Blick auf die Anzahl der Nominierungen und in welchen Kategorien die Filme konkurrieren hilfreich.
Zu den wichtigen so genannten Precursor Awards gehören neben den Golden Globes (Auslandspresse) und den Critics Choice Awards (CCA – Inlandspresse) die Preise der Producers Guild (PGA), der Directors Guild (DGA), der Writers Guild (WGA), der American Cinema Editors (ACE) und der Screen Actors Guild (SAG) sowie die BAFTAs, dem von der British Film Academy verliehenen britischen Oscar Pendant.
1.Dokumentarfilm
Wird gewinnen: NAVALNY, der dem russischen Oppositionspolitiker nach dem mißglückten Giftmordanschlag auf ihn im Sommer 2020 in die Genesung nach Deutschland folgt, seine Recherchen zu dem Attentat begleitet und schließlich Nawalnys Verhaftung bei seiner Rückkehr nach Russland dokumentiert. Der Film ist spannend wie ein Thriller und die Szene, in der Nawalny in einem Telefongespräch einem Verantwortlichen ein Geständnis abringt, gehört zu den aufregendsten des Jahres. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, hat der Film ohnehin ein hohes Maß an Aktualität. Auf BAFTA und PGA wird nun der Oscar folgen.
Sollte gewinnen: FIRE OF LOVE zeichnet die faszinierende Lebens- und Liebesgeschichte von Katia und Maurice Krafft nach. Die beiden französischen Vulkanologen hatten sich ganz ihrer Leidenschaft verschrieben und zahlreiche spektakuläre Aufnahmen vulkanischer Aktivität gesammelt, die nun die Grundlage für diesen auf bizarre Weise wunderschönen Film bilden. Die Academy tut sich traditionell schwer mit Filmen, die, wie FIRE OF LOVE, komplett aus Archivaufnahmen zusammengestellt wurden, aber er gewann den DGA und den ACE Award und ist noch im Rennen.
Außerdem nominiert: ALL THAT BREATHES, über drei junge Männer, die im smogbelasteten Neu-Dehli verletzten Vögeln helfen und feststellen müssen, dass sie als Muslime in der hindu-nationalistisch geprägten Gesellschaft Indiens selbst einer gefährdeten Spezies angehören. ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED erzählt von der Karriere der amerikanischen Foto-Künstlerin Nan Goldin und ihrem Kampf gegen die für die Opioid-Krise in den USA verantwortliche Sackler-Familie und wurde in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. A HOUSE MADE OF SPLINTERS führt in die Vorkriegs-Ostukraine, wo in einem Heim Waisenkinder auf ihre zukünftigen Familien warten.
2.Animationsfilm
Wird gewinnen: GUILLERMO DEL TOROs PINOCCHIO, der die berühmte Geschichte von Carlo Collodi in die Zeit des italienischen Faschismus verlegt und ihr so zusätzliche Brisanz verleiht. Del Toros Version ist düsterer und hat einen existentialistischen Kern, den frühere Verfilmungen vermissen lassen. Die Stop-Motion-Animation durch Mark Gustafson ist brillant. Wie alle del Toro-Filme ist auch dieser ein visueller Hochgenuss. Dafür gab es den Golden Globe, den BAFTA, den Art Directors Guild Award, CCA, ACE, PGA und den von den Animatoren verliehenen Annie Award. Noch Fragen?
Sollte gewinnen: MARCEL THE SHELL WITH SHOES ON, eine Mockumentary über eine kleine Muschel, die mit ihrer Großmutter in einer Airbnb-Unterkunft lebt und sich mit Regisseur Dean Fleischer Camp anfreundet. Gemeinsam produzierte Interviews, in denen Marcel über sein Leben und seine Sicht der Dinge erzählt, landen auf YouTube und werden zum Internetphänomen. Schließlich begeben sich beide auf die Suche nach Marcels verschollener Familie. Ein kleiner Film mit einem großen Herz, der auf charmante Weise die Grenze zwischen Animations- und Realfilm verschiebt.
Außerdem nominiert: PUSS IN BOOTS: THE LAST WISH, eine Neuauflage des beliebten Charakters aus dem Shrek-Universum. THE SEA BEAST, ein farbenfrohes Fantasy Abenteuer, das vor allem bei der Animation der verschiedenen Oberflächen beeindruckt. TURNING RED, in dem sich ein junges Mädchen plötzlich in einen großen roten Panda verwandelt. Pubertät, Menstruation und die unvermeidliche Auseinandersetzung mit einer überbehütenden Mutter sind die Themen dieser knallbunten Komödie aus dem Hause PIXAR. Bei der Dominanz PIXARs in dieser Kategorie (11 von 21 bisher vergebenen Oscars) hätte TURNING RED eigentlich den ersten Zugriff auf diesen Award, doch PINOCCHIO ist zu stark und wird nach WALLACE & GROMIT: THE CURSE OF THE WERE-RABBIT (2005) als zweiter Stop-Motion-Film gewinnen.
3.Internationaler Spielfilm
Wird gewinnen: IM WESTEN NICHTS NEUES, die erste deutsche Adaption des Remarque-Romans erfreut sich, trotz fragwürdiger Neuinterpretation und eines die Grundidee des Romans verratenden Finales, großer Beliebtheit. Als einziger internationaler Film ist er in mehr als dieser einen Kategorie nominiert. Neunmal insgesamt! Auch als Bester Film. Dieser Oscar ist reine Formsache. Deutschland gewinnt damit nach DIE BLECHTROMMEL (1979), NIRGENDWO IN AFRIKA (2002) und DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) seinen vierten Oscar. Nur Frankreich (9) und Italien (11) gewannen häufiger.
Sollte gewinnen: EO (Polen), Jerzy Skolimowskis Quasi-Remake des Robert Bresson-Klassikers AU HASARD BALTHASAR (1966) – ein audiovisuelles Gedicht, in dem ein Esel zum unfreiwilligen Zeugen menschlicher Überheblichkeit wird. Oder CLOSE (Belgien), in dem die innige vorpubertäre Freundschaft zweier Jungen von ihrem Umfeld hinterfragt wird und in eine Katastrophe mündet. Ein aufwühlender, exzellent fotografierter Film, dessen junger Hauptdarsteller Eden Dambrine die vielleicht beste Performance des Jahres zeigt.
Außerdem nominiert: ARGENTINA, 1985 (Argentinien), ein gutes aber formal wenig anspruchsvolles historisches Drama über die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Militär-Junta, das immerhin den Golden Globe gewann. THE QUIET GIRL (Irland), in dem ein junges Mädchen aus verwahrlostem Haushalt einen Sommer bei ihrer liebevollen Tante verbringt. Vor allem die Beziehung zu ihrem sie zunächst zurückweisenden Onkel rückt zunehmend in den Vordergrund und mündet in den letzten Sekunden des Films in einen emotionalen Höhepunkt. Dieser sehr schöne, ruhige Film ist die erfolgreichste irische Produktion aller Zeiten und als erster irischer Film für den Oscar nominiert.
4. Bester Film
Damit sind wir beim Finale, dem Hauptpreis, angelangt. Bester Film ist die einzige Kategorie, die über ein Preferential Ballot verliehen wird. Im Unterschied zu den anderen Kategorien, wo eine einfache Stimmenmehrheit zum Oscar genügt, geben die Academymitglieder hier ein Ranking ab, bei dem der zukünftige Beste Film genügend Erstplatzierungen sammeln muss, um auf 50 % + 1 Stimme zu kommen. Da dies in der ersten Runde selten der Fall ist, werden die Stimmzettel erneut ausgezählt, wobei der Film mit den wenigsten Stimmen aus den Listen gestrichen wird und nachfolgende Filme aufrücken. Auf jenen Listen, auf denen z.B. der gestrichene Film auf Platz 1 stand, rückt nun der ursprünglich Zweitplatzierte an die Spitze. Das Prozedere wird so oft wiederholt, bis ein Film die magische Grenze überschreitet. Das Ergebnis ist dann eine Konsensentscheidung, von der man hofft, dass sie das Kinojahr und den Geschmack der Academy am besten repräsentiert.
Wird gewinnen: EVERYTHING EVERWHERE ALL AT ONCE. Die Science Fiction-Komödie über eine gestreßte Waschsalonbetreiberin, die während eines unangenehmen Termins beim Finanzamt plötzlich in einem wilden Abenteuer ins Multiversum geschleudert wird, das unfassbar Böse, Jobu Tupaki, aufhalten soll und dafür die Fähigkeiten ihrer anderen Ichs aus den anderen Universen adaptieren muss, gehört zu den erstaunlichsten Erfolgsgeschichten des vergangenen Jahres. Die Independent Produktion (mit Kosten von 25 Millionen $ nach Hollywood Maßstäben ein Low-Budget-Film) startete vor einem Jahr mit 10 Kopien in den Kinos und hat bis heute mehr als 100 Millionen $ eingespielt. Von Beginn an ein Fanfavorite und Kritikerdarling, hat ihn eine Welle der Begeisterung bis hierher getragen. Dabei spricht eigentlich so vieles gegen diesen Erfolg. Der Film ist schräg, laut, fantastisch. Noch nie hat ein Science-Fiction-Film den Top-Preis gewonnen, noch nie ein Film mit einer asiatischen Migrantenfamilie im Zentrum. Daniels haben diese Geschichte für ein modernes, jugendliches, im Konsum von kleinen bis kleinsten Filmschnipseln trainiertes Publikum inszeniert und man fragt sich schon, ob ein Film, in dem unter anderem oversized Dildos und Butt-Plugs prominent zum Einsatz kommen, auch ein älteres Publikum, vor allem die vielen älteren Academy-Mitglieder, erreicht und begeistert. Und doch deutet am Ende dieser Oscar Saison alles auf EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE als Bester Film hin. Elf Nominierungen! CCA, DGA, WGA, ACE, SAG, dazu Hauptpreise der Art Directors, der Costume Designers, der Set Decorators und der MakeUp & Hair Stylists Guild und der PGA, der als einziger Precursor wie die Oscars über ein Preferential Ballot vergeben wird. Es ist eigentlich keine Frage mehr, ob EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE den Oscar gewinnt, sondern eher wieviele Oscars er am Ende bekommt.
Sollte gewinnen: EVERYTHING EVERWHERE ALL AT ONCE, der für eine neue Aufgeschlossenheit der Academy für moderne Erzähltechniken, aber auch (alle wokehater müssen jetzt ganz stark sein) für ein modernes Familien- und Geschlechterbild und für die Probleme von bislang wenig repräsentierten Minderheiten steht. Im Kern, und das ist vielleicht der Schlüssel zum Erfolg, ist EVERYTHING EVERWHERE ALL AT ONCE aber trotz all der verrückten Handlungsstränge und Querverweise ein Film, der ganz klassische Familienwerte transportiert und einen optimistischen Blick in die Zukunft wirft.
Außerdem nominiert: IM WESTEN NICHTS NEUES ist als erster deutscher Film in der Königskategorie nominiert – die 13. internationale Produktion, der das gelang. Zum fünften Mal in Folge ist damit ein nichtenglischsprachiger Film für den Oscar im Rennen. Die neun Nominierungen für den Kriegsfilm sind ein deutscher Rekord. Bislang war in dieser Beziehung DAS BOOT (1982) mit sechs Nominierungen am erfolgreichsten. Im Unterschied zu diesem wird IM WESTEN NICHTS NEUES aber mindestens einen Oscar (Best International Film) gewinnen, möglicherweise noch ein paar mehr (Kamera und Score z.B.). Für den Hauptpreis sind die Hürden aber doch sehr hoch. Neben der Sprachbarriere (PARASITE wurde 2020 als bislang einziger nichtenglischsprachiger Film mit dem Top-Oscar ausgezeichnet) schlägt auch die fehlende Nominierung für Regie zu Buche. Erst sechs Filme konnten ohne diese den Oscar gewinnen, drei davon allerdings in den letzten zehn Jahren. Nichtsdestotrotz hat IM WESTEN NICHTS NEUES nach sieben gewonnen BAFTAS (inkl. Bester Film, Regie und Drehbuch) wahrscheinlich noch die besten Chancen, EVERYTHING EVERWHERE ALL AT ONCE den Sieg hier noch streitig zu machen. Zumindest in der Theorie.
AVATAR: THE WAY OF WATER ist unter kommerziellen Aspekten mit 2,2 Milliarden $ Einspiel der dritterfolgreichste Film aller Zeiten. Die weiterhin recht simple Story und ihre Ökobotschaft wurde um eine interessante Patchwork-Familienkonstruktion erweitert, die auch antagonistische Charaktere nicht ausschließt. Ansonsten ist dieser Film natürlich in erster Linie ein technisches Wunderwerk und wird zumindest den Oscar für visuelle Effekte gewinnen.
THE BANSHEES OF INISHERIN erzählt von zwei irischen Männern, deren langjährige Freundschaft zerbricht, als der Eine die sinnfreien Gespräche mit dem Anderen über hat und lieber etwas bedeutendes für die Nachwelt hinterlassen möchte. Ob Martin McDonaghs schwarze Komödie eine Parabel auf den inneririschen Konflikt ist (der Bürgerkrieg auf der Insel tobt 1923 im Hintergrund) oder Kommunikationsstörungen im Zeitalter von social media und so genannter cancel culture aufs Korn nimmt, liegt im Auge des Betrachters. Leider kann es McDonagh auch bei diesem Film nicht vermeiden, den Konflikt am Ende ins Unglaubwürdige zu überdrehen, aber das gehört bei ihm wohl dazu. Mit neun Nominierungen sollte BANSHEES eigentlich ein Big Oscar Player sein. Doch allein den Golden Globe für den besten Film (Comedy or Musical) konnte er gewinnen. Auch die vier BAFTAS, u.a. für Outstanding British Film, helfen nicht, denn den Hauptpreis der British Academy gewann IM WESTEN NICHTS NEUES.
Die Nominierung für das Biopic ELVIS unterstützt vor allem Austin Butlers Oscar-Kampagne. Ohne die wichtigen Nominierungen für Regie und Drehbuch hat der Film praktisch keine Chance auf den Hauptpreis. Seit 1932 hat kein Film ohne Nominierungen in wenigstens einer der beiden Schlüsselkategorien gewonnen. ELVIS ist gewiss der schwächste unter den zehn besten Filmen. Wie so oft verliert Regisseur Baz Luhrmann auch bei diesem farbenfrohen Rausch Maß und Mitte. Dass der Film dennoch über weite Strecken (vor allem in der zweiten Hälfte) funktioniert, liegt ganz klar an seinem famosen Hauptdarsteller. Butler trägt den Film und ist der einzige ernstzunehmende Grund, warum ELVIS überhaupt als Bester Film nominiert wurde.
THE FABELMANS, Steven Spielbergs Film über die eigene Jugend, wurde lange als Topkandidat gehandelt. Bis der Film an der Kinokasse floppte. Die Golden Globes für Film (Drama) und Regie sind die einzigen Precursor, die er gewinnen konnte. Dabei gehört THE FABELMANS zu den besseren Spielberg-Filmen. In zwei parallel laufenden und miteinander verschlungenen Erzählsträngen erfahren wir vom Ende der Ehe seiner Eltern und den Anfängen seiner Filmleidenschaft. Schnell wird aus dem Super 8-Hobby eine immer tiefgründigere und ernstzunehmende Beschäftigung mit dem Medium Film, das dem jungen Sammy Fabelman aka Steven Spielberg hilft, eine Distanz zu den weniger erfreulichen Ereignissen in seinem Umfeld aufzubauen. THE FABELMANS ist ein Paradebeispiel für die effiziente, vordergründig auf Simplifizierung setzende, im Detail aber sehr reichhaltige Kunst des Erzählens, die Spielberg zu einem der besten und erfolgreichsten Regisseure der Filmgeschichte gemacht hat. Dabei ist der Film auch eine Hommage an das Kino, vor allem aber an die Kunst der Montage, deren Wirkmacht in zwei Schlüsselszenen prominent hervorgehoben wird.
Mit TÁR kehrt Regisseur Todd Field nach sechzehn langen Jahren auf die Leinwand zurück. Nach IN THE BEDROOM (2001) und dem brillanten LITTLE CHILDREN (2006) ist TÁR erst Fields dritter Spielfilm. Nach diesem furiosen Biopic, das gar kein Biopic ist, da Lydia Tár, die erste Chefdirigentin eines Orchesters von Weltrang, eine skrupellos egozentrische Person, die an der eigenen Hybris scheitert, eine komplett ausgedachte Figur ist, die aber so präzise ausgearbeitet (und gespielt) wird, dass man kaum glauben mag, sie sei fiktiv und nicht real, kann man sich nur wünschen, Field möge sich nicht erneut soviel Zeit für seinen nächsten Film nehmen. TÁR ist ein brillantes Werk, das Filmstudenten und -analysten noch lange beschäftigen wird. Gekrönt wir er von einer – ich kann es nicht anders sagen – Jahrhundertperformance, der besten, die Cate Blanchett in ihrer an herausragenden Leistungen nicht eben armen Karriere bislang gezeigt hat. Bester Film wird er wohl nicht werden, in jedem anderen Jahr aber hätte er es mehr als verdient.
Das Legacy Sequel TOP GUN: MAVERICK hat alle Erwartungen übertroffen und mit 1,5 Milliarden $ viermal soviel eingespielt, wie das Original von 1986. Kritik und Publikum in Amerika waren ganz aus dem Häuschen. Nicht wenige meinen, TOP GUN: MAVERICK sei der Film, „der das Kino gerettet“ habe. Dabei bietet der Film inhaltlich kaum Neues. Aber wen interessieren schon Story und Charakterentwicklung, wenn man ein paar heiße Düsenjets hat. In einem Film wie TOP GUN: MAVERICK geht es im Wesentlichen ums Fliegen, um Geschwindigkeit, um spektakuläre Luftmanöver und rasante Actionszenen. Und wenn man den unterentwickelten, jeden Intellekt beleidigenden Plot mal außer Acht lässt, dann liefert der Film genau das. Und davon jede Menge. Technisch spielt der Film in der ersten Liga, die Nominierung für den Besten Film ist dennoch ein Witz.
Mit TRIANGLE OF SADNESS hat der Schwede Ruben Östlund seinen ersten englischsprachigen Film inszeniert. Wie seine früheren Arbeiten ist auch diese eine kühle Versuchsanordnung, menschliches Verhalten und dessen Abgründe offenzulegen. Die Gnadenlosigkeit, mit der sich die Protagonisten seiner Filme selbst bloßstellen, hat ihm nicht nur Freunde eingebracht. Als Satire ist TRIANGLE OF SADNESS zu wenig subtil, als Drama aber schlicht zu komisch. Östlunds Film ist als Triptychon angelegt, dessen, in einer nicht enden wollenden Kotzorgie mündender, Hauptteil auf einer Luxusyacht spielt, auf der sich einige abartig reiche Menschen von einer ihnen hündisch ergebenen Besatzung bedienen lässt, während der von den Verhältnissen angewiderte Kapitän seinen marxistischen Kummer in Unmengen von Alkohol zu ertränken sucht. Die Klammer bilden zwei sich spiegelnde Episoden. Während im ersten Teil traditionelle Geschlechterrollen und der Gendergap auf den Kopf gestellt werden, findet im dritten Teil die Revolution statt. Nach dem Untergang der Luxusyacht müssen die Schiffbrüchigen auf einer vermeintlich einsamen Insel feststellen, dass die Fähigkeiten, mit denen sie zuvor ihre Vermögen vermehrten, in der neuen Situation nutzlos sind. Und so übernimmt eine, im Hauptteil nur als Statistin wahrgenommene, philippinische Putzfrau das Kommando und errichtet ein Matriarchat. Dolly de Leon läuft hier zur Höchstform auf und hätte einen Oscar als Nebendarstellerin verdient. Leider hat es dafür nicht gereicht. Stattdessen ist TRIANGLE OF SADNESS in den drei Topkategorien Film, Regie und Drehbuch nominiert.
In WOMEN TALKING müssen die weiblichen Mitglieder einer mennonitischen Gemeinde eine folgenschwere Entscheidung treffen. Seit Jahren werden die Frauen nicht nur unterdrückt und von jeglicher höheren Bildung ferngehalten sondern auch systematisch sexuell missbraucht. Als die Täter auffliegen, verlangen die Männer von den Frauen Vergebung. Andernfalls müssten sie (die Frauen) die Gemeinde verlassen, mithin wäre ihnen der Zutritt zum Himmelsreich verwehrt. Die Frauen beraten nun in einer Scheune drei mögliche Optionen: Nichtstun, Bleiben und Kämpfen oder Gehen. Obwohl alle Frauen die gleichen schrecklichen Erfahrungen gemacht haben, bilden sich unterschiedliche Fraktionen bis sich die Frauen nach einem kontroversen Erkenntnisprozess für den einzig gangbaren Weg entscheiden. Die Handlung beruht zwar auf einer realen Begebenheit, doch stellt der Film gleich zu Beginn klar: „What follows is an act of female imagination.“ Mit viel Hoffnung in die Award Season gestartet, landete der Film am Ende bei nur zwei Nominierungen für Film und Drehbuch, dabei hätte man allein die Kategorie Nebendarstellerin mit dem Cast von WOMEN TALKING ausfüllen können. Die Hoffnung liegt nun auf Sarah Polleys perfekt ausbalanciertem Script.
Zum Schluss möchte ich mit den Worten Guillermo del Toros nochmal auf eine grundlegende aber manchmal übersehene Wahrheit über die Academy Awards zurückkommen: kein Film wird schlechter, wenn er den Oscar nicht gewinnt, was umgekehrt auch heißt, dass kein Film dadurch besser wird, dass er den Oscar gewinnt. Es ist nur ein Filmpreis und die Academy hat in ihrer fast hundertjährigen Geschichte viele Preise vergeben, über die eine heutige Jury ganz anders entscheiden würde, manchmal sogar in jüngster Vergangenheit (here’s looking at you GREEN BOOK). Die Academy trifft eine Entscheidung im Hier und Jetzt und ob diese in einem, in zehn oder in hundert Jahren noch nachvollziehbar ist, wird sich zeigen. Allen, die sich, wie ich, die Nacht zum Montag um die Ohren schlagen, um die Oscars live zu sehen, wünsche ich viel Spaß und wer weiß, vielleicht wird es ja wirklich ein historischer Abend.
Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.