„Tabu“ von Miguel Gomes
Bestandsaufnahme in schwarzweiß
Gomes spielt mit den fantastischen Möglichkeiten der Imagination des Kinos und experimentiert in seinem bei der 62. Berlinale mit dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnetem Beitrag mit ungewöhnlichen Formen des cinematographischen Ausdrucks. Eine Ode an das Kino, die ganz im Sinne des Festivalgründers, nach dem der Berlinale-Preis benannt ist, neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet. Sogar mit „einem altmodischen Film“, den Gomes, wie er bei der Bären-Vergabe anmerkte, drehen wollte.
Schon die erste Szene irritiert: Verwandelt sich der bärtige Mann zu Beginn von „Tabu“ tatsächlich in ein Krokodil? Oder frisst ihn das Krokodil gar? Noch während der Zuschauer darüber nachdenkt, leistet Gomes wenig später einer älteren Dame Gesellschaft, die in einem menschenleeren Kino sitzt und sich bald nach Ende des Films in ihrem Auto auf den Weg nach Hause begibt. Kino im Kino. Vielleicht sogar eine Bestandsaufnahme Gomes‘ für den Zustand des angesprochenen „altmodischen Kinos“. Doch zurück: Die Dame im verwaisten Kino ist Pilar. Sie ist eine der drei Heldinnen des ersten von zwei Teilen in“Tabu„, den Gomes mit „The Lost Paradise“ überschreibt, in dem der portugiesische Regisseur die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr erzählt.
Der Zuschauer lernt darin Pilar kennen, die allein in Lissabon lebt. Um ihrem einsamen Leben einen Sinn zu geben, kümmert sie sich um die Menschen, die sie umgeben. Um Freunde und ihre Nachbarin Aurora, eine gealterte Diva, die nebenan mit der schwarzen Bediensteten Santa wohnt, die sich im Auftrag ihrer Tochter um sie kümmert. Doch Aurora vertraut Santa nicht. Im Gegenteil, sie hat sie als Feindin und Teil einer Verschwörung ausgemacht. Daher bittet sie Pilar, sich auf die Suche nach einem gewissen Ventura zu machen, wenn sie stirbt. Einen Namen, den Pilar noch nie gehört hat. Seine Spur führt nach Afrika.
Dort leitet die Überschrift den zweiten Filmteil „Paradise“ ein, womit Gomes einen radikalen Bruch vollzieht, was seine Erzählform angeht. Ventura erzählt nun aus dem Off (oder liest später aus Liebesbriefen vor), während Gomes auf weitere Dialoge zwischen seinen Figuren verzichtet und die Handlung nur von Musik begleiten lässt. Fortan findet sich der Zuschauer kurz vor dem Ausbruch der antikolonialen Befreiungskriege in Afrika und Gomes rückt die junge Aurora in seinen Fokus. Sie wächst in Afrika im Schatten des (erfundenen) Mount Tabu auf, ohne Mutter, erzogen von ihrem zockenden Vater. Angekommen in geregelten Verhältnissen und schwanger, verliebt sie sich in den jungen Gigolo Gian Luca, einen Musiker, der, bis er Aurora begegnet, jedem Rock nachsteigt. Die beiden beginnen eine verhängnisvolle Affäre, die ein tragisches Ende finden soll.
„Tabu“ ist harte Arbeit und nur schwerlich in Worte zu fassen. Das liegt an der Handlung, die ein ausufernder Prolog nur unmerklich anschiebt und die dank der nicht chronologischen Erzählweise erst sehr spät rund wird. Aber auch an den unterschiedliche Erzählformen, da Gomes für seinen Schwarzweißfilm etwa Stilmittel vom Stumm- und Dokumentarfilm entlehnt. Ergebnis ist großes Autorenkino, welches in einer kompliziert aufbereiteten, aber eigentlich sehr einfachen Liebesgeschichte viel über Sehnsüchte, Schwermut, Melancholie und den portugiesischen Fado, erzählt, dessen Ursprung im portugiesischen Kolonialismus in Afrika zu finden zu sein scheint.
Denis Demmerle
„Tabu„ Regie: Miguel Gomes, Drehbuch: Miguel Gomes, Marina Ricardo, Darsteller: Teresa Madruga, Laura Soveral, Ana Moreira, Henrique Espírito Santo, Carloto Cotta, Kinostart: 20.12. 2012