„The Boy and the World“ von Alê Abreu



Cucas Reise, die ihn vom Land in die Stadt und wieder zurückführt, wird von den starken und farbintensiven, detaillierten Bildern getragen, die im Laufe des Films immer mehr an Verspieltheit einbüßen. Der unbeholfene, kindliche Pinselstrich der (oft handgezeichneten) 2D-Animation weicht einem härteren, futuristischen Animationsstil, der sich zunehmend collagenartig mit Cut-Out-Animation und Live-Action vermischt. Die Metapher der Verwandlung einer unmittelbaren, unbekümmerten Kinderzeichnung in ein verstehen-wollendes Kunstwerk wird hier schlussendlich zum Sinnbild: Cuca wird erwachsen, Entscheidungen werden verlangt, die Welt erscheint plötzlich komplexer und unverständlicher. Die großen Zusammenhänge, sie werden in „The Boy and the World“ vor allem im Bereich der Arbeit verhandelt. So erlebt Cuca, wie Alte und Kranke vom Baumwollplantagenbesitzer aussortiert werden, wie die Fließbandarbeit die Menschen in Maschinen verwandelt, wie ebendiese Maschinen von neuer High-Tech-Produktion obsolet gemacht werden. Doch er erlebt auch den Protest der Zivilgesellschaft, die sich organisiert, um die staatlichen Entscheidungsträger zu stürzen.

Weiterlesen: Der Film wurde beim größten Animationsfilmfestival in Annecy mit dem Crystal Award und dem Publikumspreis ausgezeichnet. Hier unser Festivaltagebuch.

Diese schier unglaubliche narrative Entwicklung lässt einen fast atemlos zurück – vielleicht, weil man es einem Film von derartig ästhetisch-visueller Opulenz nicht zutraut, auch inhaltlich so fordernd an den Zuschauer heranzutreten. Es ist ein kleines, großes Wunder, dass „The Boy and the World“ trotz aller Entfremdungs- und Globalisierungskritik nicht in plumpes Kapitalismusbashing abdriftet und, im Gegenteil, dank seiner vielen Ebenen sowohl als Parabel als auch als persönliche Adoleszenzgeschichte funktioniert. Die schier unglaublich facettenreichen Bilder, die diese Erzählebenen vermitteln, werden dabei um ein ausgeklügeltes Sounddesign ergänzt, das den Film atmosphärisch verdichtet. Cucas ersehnter Flötenton wirkt noch nach, als der letzte Farbtupfer verschwunden ist – und wir längst wissen, dass Cucas Reise einen unerwarteten Ausgang nehmen wird. Es führt eben kein Weg zur Kinderzeichnung zurück.

Marie Ketzscher

The Boy and the World„, Regie: Alê Abreu

Termine bei Premiere Brasil
Sonntag, 2. November 14 Uhr, Haus der Kulturen der Welt
Sonntag, 9. November 14 Uhr, Haus der Kulturen der Welt

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