„The Dynamiter“ von Matthew Gordon


"The Dynamiter": Das ganze Drama der endenden Kindheit, Foto: Viennale

"The Dynamiter": Das ganze Drama der endenden Kindheit, Foto: Viennale

Eine traurige Kindheit ist im Grunde immer ein Musikfilm. Alkoholsüchtige Eltern, kriminelle Geschwister und berufliche Aussichtslosigkeit bieten einfach immens guten Stoff für melancholische oder erbauliche Melodien, inmitten verdreckter Tassen. Das muss nicht gleich im kindlichen Pathos enden wie im grellen Waisenhausmusical „Annie“ (1982), im Grunde muss nicht einmal gesungen werden. Manchmal reicht schon eine wunderbare heiß-trockene Mississippikulisse, ein rotzfrecher, selbstbewusster Nachwachsschauspieler namens William Ruffin und die Band Mumford & Sons, viel Mumford & Sons. Nicht zu vergessen Animal Collective und Bon Iver. Dann entsteht dabei ein Film wie Matthew Gordons „The Dynamiter“ (US 2011), der entgegen seines reißerischen Titels eher Charakterstudie als handlungsreiches Drama ist.

Robbie Hendrick ist mit seinen 14 Jahren unfreiwilliges Familienoberhaupt. Mit erklautem Geld bestreitet er den Lebensunterhalt für sich, seine demente Großmutter und seinen jüngeren Bruder Fess. Die Mutter schreibt Postkarten, sehnsüchtig und Rückkehr ankündigend, der große Bruder schaut in unregelmäßigen Abständen vorbei, um sich zu betrinken, seine wechselnden Freundinnen auf dem Sofa zu beschlafen und kleinkriminelle Aktivitäten zu begehen. Wäre Robbie aus ähnlichem Holz, der Zuschauer würde wohl seinem cineastischen Abstieg in die Unterwelt beiwohnen, einem deprimierendem.

Nicht so bei „The Dynamiter„. Robbie wird beim Klauen erwischt und soll als Wiedergutmachung für den Schuldirektor einen Aufsatz über sein Leben schreiben. Das vollgekritzelte Schreibheft wird schnell zum Schwamm der Selbstreflexion, als sich Robbie mit seinen ersten Frauengeschichten herumschlägt (seinem Bruder nacheifernd, lehnt er die Zuneigungsbekundungen gleichaltriger Mädchen ab und sucht nach Erfahrungen mit Älteren), seinen ersten Job als Tankstellenboy besorgt und schließlich eine folgenschwere Entscheidung trifft, die ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht. Durchbrochen ist die Entwicklung der Plots immer wieder von flirrenden Momenten atmosphärischer Südstaatenromantik: Wenn Robbie und Fess zwischen den Heuballen mit ihren Holzschwertern kämpfen, wenn sie in einem verschlammten Teich watend Geld sammeln oder Robbie von seinem Ersparten Oma und Fess zu seinem Geburtstag zum Essen ausführt, dann meint man, das ganze Drama der endenden Kindheit zu riechen und zu schmecken (der oft beschworene Vergleich mit Terrence Malick ist also nicht unbegründet). Unterlegt und begleitet werden alle Bilder von einem schwebenden, nie enden wollenden Soundtrack, der meist nicht einmal zugunsten der Dialoge abreißt.

Das ist anfangs beeindruckend, einlullend – vor allem, weil die Musik in der Tat besonders stimmungsvoll auf die Bilderwelt zugeschnitten ist – wird aber auf die Dauer zunehmend nervig. Wie die Hochzeitsglocken vor dem Beginn der eigentlichen Feierlichkeiten scheint einem der Soundtrack immer wieder zuzurufen: „Guck mal, wie schön ich bin. Guck mal, es ist nicht schlimm, dass wir aus ausgespülten Marmeladengläsern trinken, alles wird gut.“ Dabei hätte „The Dynamiter“ eine solche musikalische Selbstbeweihräucherung gar nicht nötig – der starke Cast rettet auch über dramaturgisch schwache Stellen (insbesondere narrative Verzögerungen, die den Plot zu oft verlangsamen) und insbesondere William Ruffin als Robbie ist eine echte Entdeckung.

Obgleich auf der Viennale (hier zum Festvalbericht) ohne nennenswerte Begeisterung verklungen, hat „The Dynamiter“ echtes Indie-Lieblingsfilm-Potential: Endlich ein Südstaaten-Musikfilm, der sich verträumt und allein auf der Tanzfläche um sich selbst dreht und dabei auch noch verdammt gut anzuschauen ist. Vielleicht sogar dann noch, wenn der DJ die Musik abdreht.

Marie Ketzscher

The DynamiterRegie: Matthew Gordon, Drehbuch: Matthew Gordon, Brad Ingelsby, Darsteller: William Ruffin, Patrick Rutherford, Amie Ruffin, Braxton Gardon, Hannah Feltus