WIR BEIDE (OT: DEUX) von Filippo Meneghetti


WIR BEIDE schafft zwei Charaktere, die Handlungsmacht besitzen. Mado und Nina sind nicht als Opfer oder als sexuell inaktive Rentnerinnen dargestellt – ein sonst im Kino viel zu populäres Bild – sondern genau im Gegenteil: Sie sind aktiv und selbstbestimmt. Das Spiel der zwei Hauptdarstellerinnen erzählt emotional stark die Nähe zwischen den beiden Liebenden und beschränkt sich nicht auf rührselige Momente: Nina – Sukowa ist bekannt durch Arbeiten mit Werner Fassbinder und Margarethe von Trotta – zeigt sich auch von ihrer rabiaten, kämpferischen Seite, wenn es um Mados Wohlbefinden geht. Und auch Mado gesteht der Film für die Geschichte wesentliche Handlungsfähigkeit zu, auch nachdem sie durch ihren Schlaganfall körperlich behindert ist (etwa indem sie Nina vom Pflegeheim aus anruft).

Negative Kritik gilt dem Erzählstrang um den Konflikt zwischen Nina und der Pflegerin Muriel inklusive Schläger-Sohn: Dieser wirkt innerhalb des Gesamtnarrativs aufgesetzt, als hätte auf der dramaturgischen Checkliste des Films gestanden „kriminelle Energien einbauen“. Dass die einzige dunklere Person zudem die in prekäreren Verhältnissen lebende, ruppige Muriel ist, festigt leider ein negatives Stereotyp. Wünschenswert wäre gewesen, etwa den Arzt nicht als weißen, älteren Mann zu besetzen, um hier mehr positiven Spielraum Richtung Diversität zu öffnen.

Weiterlesen: Unsere Kritik zu GLORIA von Sebastián Lelio und zu LIEBE von Michael Haneke.

WIR BEIDE macht Lust auf mehr, mehr Frauen wie Nina und Mado, Frauen wie sie auch in GLORIA (Sebastián Lelio, 2013/2018) oder GRACE AND FRANKIE (Marta Kauffman, Howard J. Morris, seit 2015) auf der Leinwand zu sehen sind. Der Film, so viel sei verraten, entlässt die Zusehenden mit einer positiven Grundstimmung, anders als LIEBE (Michael Haneke, 2012), mit dem er thematische Ähnlichkeiten hat.

Frankreich schickt den Film ins Rennen um den besten internationalen Film bei den Academy Awards 2021. Einer „queeren“ Liebesgeschichte zwischen zwei älteren Frauen dadurch erhöhte Aufmerksamkeit zu geben, setzt ein gutes Zeichen – nicht zuletzt nach dem Skandal um Polanski ist das auch bitter nötig.

Bianca Jasmina Rauch

WIR BEIDE (OT: DEUX), Regie: Filippo Meneghetti, Darstellerinnen: Martine Chevallier, Barbara Sukowa, Léa Drucker, Muriel Benazeraf, ab 11. Dezember online und als DVD erhältlich

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