JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN von Dominik Graf


Szene aus Dominik Grafs Doku JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN.
Szene aus Dominik Grafs Doku JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN. (c) Lupa Films

Soviel vorweg: einer der relevantesten und spannungsreichsten Filme des Jahres läuft nicht auf der Berlinale. Das kommt der Woche der Kritik zugute, die parallel zu den Internationalen Filmfestspielen in Berlin stattfindet. Schon allein durch seine Existenz übt das kleine feine Festival im Hackesche Höfe Kino seit Jahren Kritik an der Programmauswahl der Berlinale. Hier ist nun die Weltpremiere von JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN von Dominik Graf zu sehen, ein Dokumentarfilm, den man wohl als Folgeprojekt von Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian“ verstehen kann, der vor eineinhalb Jahren noch im Wettbewerb um den Goldenen Bären lief.

Zunächst einmal ist JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN eine filmische Übersetzung des gleichnamigen Buches, in dem der Autor und Musiker Anatol Regnier sich mit Schriftstellern im Nationalsozialismus auseinandersetzt. Im Fokus stehen jene, die nicht ins Exil gegangen sind, wie Gottfried Benn, Ina Seidel oder eben Erich Kästner. Das Buch und nun auch der Film legen Zeugnis ab von der zerrissenen Liebe zu einem Teil jener Literatur, die trotz und auch aufgrund der herrschenden Verhältnisse zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstand. Er berstet vor Wissen, Neugier, Verzweiflung, Leidenschaft und Unbehagen; er raubt einem den Atem und trifft immer wieder in die Magengrube. Am Ende mündet JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN in einen gegenwartspolitischen Brandbrief, der ihm möglicherweise die Einladung zur Berlinale gekostet hat – doch dazu mehr am Ende.

Bei Dominik Graf mögen viele vor allem an seine herausragenden TV-Krimis denken. Tatsächlich gehören zu seinen besten Arbeiten seit langem auch Dokumentarfilme. Sie beschäftigen sich mit dem eigenen Vater, dem Schauspieler Robert Graf („Das Wispern im Berg der Dinge“), der Heimat München, dem Kino an sich und immer wieder auf verblüffende Weise mit gesellschaftspolitischen Visionen („Es werde Stadt! 50 Jahre Grimme-Preis in Marl“). Dabei belebt Graf das Dokumentarische ein ums andere Mal mit Spielfilmszenen, so wie er in seinen fiktionalen Arbeiten gerne Dokumentarisches verarbeitet. In JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN tauchen zum Beispiel Probeaufnahmen von „Fabian“ auf. In einer Szene träumt Graf verstorbene Autoren in eine nächtliche Buchhandlung von heute hinein. So entsteht ein charakteristischer, doppeldeutiger Atem der Geschichte(n). In Kombination mit inneren Monologen, die oft vom Regisseur oder auch von der Schauspielerin Jeannette Hain gesprochen werden, und einer fast märchenhaften Spekulationslust entsteht vor allem in Grafs Dokumentarfilmen eine Ebene, die man wohl am besten ätherisch-philosophisch nennt. Spirituell würde nicht passen, Graf und seine Protagonisten zeichnen sich eigentlich immer durch Pragmatismus und Bodenhaftung aus.

Auch JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN ist vielstimmig. Zu Beginn sinnt Graf über verlorene Schuhe nach, die auf Straßen herumliegen (ein Gedankengang, der so schrecklicher wie nahliegender Weise später zu den Schuhbergen der Konzentrationslager führt). Dann folgt die Kamera Anatol Regnier auf den Spuren seines Buches, in die Keller des Literaturarchivs Marbach oder auch in ein Hotelzimmer, in dem einst Klaus Mann wohnte. An jeder Ecke lauern assoziative Abzweigungen, das Internet würde sie wohl Links nennen. In Marbach etwa wurde Friedrich Schiller geboren, von dem Dominik Graf in DIE GELIEBTEN SCHWESTERN (→ hier unserer Kritik „“) hinreißend erzählt hat.

Weiterlesen: Alina Impes Kritik „Vom Gestern und Heute der Liebe“ zu DIE GELIEBTEN SCHWESTERN…

Regniers Mutter Pamela Wedekind war einst mit Klaus Mann verlobt. Auch den in JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN immer wieder zu Wort kommenden talking heads ist eine persönliche Betroffenheit anzumerken – darunter Florian Illies und die Kunsthistorikerin Julia Voss. Sie versuchen z.B. dem widersprüchlichen Leben Erich Kästners eine nachvollziehbare Logik abzugewinnen. Filmproduzent Günter Rohrbach erzählt sehr nahbar vom Bücherregal seiner Eltern und hadert mit seiner frühen Liebe zu den Gedichten Gottfried Benns – und dessen Neigung zur Nazi-Ideologie.

Alles dreht sich letztlich um die Fragen: Warum sind manche deutsche AutorInnen nicht nach 1933 ins Exil gegangen? Wie konnten sie hier leben und schreiben? Letztlich läuft es auch auf die Zuspitzung hinaus: Kann man Nazi sein und gleichzeitig gute Kunst schaffen? Erklärungsversuche klingen dann schnell nach Entschuldigungen, rutschen bisweilen ins Pathologisieren ab. Da heißt es von dem einen, er sei depressiv gewesen, ein anderer war vielleicht zu protestantisch, patriotisch und für manch einen sei wohl das gesellige Biertrinken unter Landsleuten unverzichtbar gewesen. Eingerahmt wird das alles von der Geschichte des US-amerikanischen Psychiaters Douglas Kelley. Er untersuchte im Vorfeld der Nürnberger Prozesse die Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten. Tintenklecksbilder des dabei zum Einsatz gekommenen Rorschachtests wabern hier manchmal formatfüllend über die Leinwand. Nebulös raunt Graf dabei immer wieder, die Ergebnisse dieser Tests seien lange unter Verschluss geblieben – zu gespenstisch scheint die Erkenntnis, dass Göring, Heß und ihre Mannen eher keine dämonischen Monster, sondern – in gewisser Hinsicht – auch ganz normale Menschen waren. Hier lauert der Blick in den eigenen Abgrund; hier werden große Bögen bis zum Anschlag gespannt, die weder die Protagonisten auf der Leinwand noch das Publikum leichtfertig aus ihrer Umklammerung entlassen.

Und selbst Graf und seinem Team sind dabei wohl manchmal die Köpfe ins Schwirren geraten. Die vielen Tonspuren scheinen dann so wenig zwischen Buchzitat, Interview und Regiekommentar zu unterscheiden, dass man dankbar die Anführungsstriche in den englischen Untertiteln zur Orientierung heranzieht – um dann dort über manche Unschärfen in der Übersetzung ins Grübeln zu kommen. Man kann wohl davon ausgehen, dass es da noch eine finale Fassung geben wird, bevor der Film im Sommer in die Kinos kommt. Hin und wieder scheint auch unklar, ob widersprüchliche Einordnungen bewusst zur Debatte gestellt werden oder möglicherweise unter Zeitdruck übersehen wurden. Irgendwann heißt es z.B. von Hans Fallada, er habe „unpolitisch“ geschrieben, was angesichts seiner Romane (wie „Jeder stirbt für sich allein“) völliger Humbug ist. Wahrscheinlich bezieht sich Graf da auf eine der schwächeren Stellen der Buchvorlage, wo Regnier im Archiv Falladas Kalender findet, fast nur Aufzeichnungen zu Wetterlagen und Viehfutter entdeckt und daraus schließt, der Autor habe „konsequent weggeschaut“. Ein angemessen kritisches Verhältnis zum Umgang mit Quellen spricht aus Grafs Film manchmal weniger als man eigentlich erwarten könnte, zumal dessen sonstiger Einsatz von Propaganda-, Literatur und Archivmaterial das Publikum immer wieder einen medienkompetenten Umgang abverlangt.

Poster zu JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN von Dominik Graf
Poster zu JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN von Dominik Graf. (c) Lupa Films

Auch manche unhaltbaren, allzu pauschalen Behauptungen tauchen auf, vor allem dass „niemand habe wissen können“, welche verbrecherische Energie von der nationalsozialistischen Elite einmal ausgehen würde. Da war selbst Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“ mit seinem abschließenden Verweis auf die Scholl-Geschwister schon weiter. Last but not least wirkt das wiederkehrende Grübeln über das Verhalten von Kunstschaffende in einer Diktatur eher rhetorisch, wenn man man versäumt, noch sehr lebendige Zeitzeugen aus anderen Systemen zu dem Thema zu befragen. Die DDR beispielsweise kommt in dem Film nur in Gestalt eines Ausschnitts aus Roland Gräfs Film „Fallada – letztes Kapitel“ vor. Dominik Graf bevorzugt historische Rückgriffe in frühere Jahrhunderte, streift die Studentenproteste von 1968 und beschäftigt sich mit einer Schnittstelle von westdeutscher Literatur und der RAF. Das ist alles klug und spannend, aber auch eine sehr sehr westdeutsche Blasensicht auf die Dinge.

Letztlich betreffen alle Kritikpunkte dann aber doch Details, die den Wert dieses gewaltigen, ungemein aufregenden und herausfordernden Films nicht schmälern. Praktisch wären Stift und Notizblock im Kino, immer wieder werden Dinge gesagt und beschrieben, die man festhalten will, denen man noch auf den Grund gehen möchte, die Lust machen, weiter zu lesen. Ganz am Schluss kommt der Film auf die Gegenwart und nimmt eine Meldung auf, die vor eineinhalb Jahren für viel Kopfschütteln sorgte. In München habe damals die Umbenennung der Erich-Kästner-Straße zur Debatte gestanden, heißt es, weil Kästner, wenn auch unter Pseudonym, trotz Verbrennung seiner Bücher weiter für die Nazis gearbeitet habe. Zuvor hatte Grafs Film selbst seine ausführliche Beschäftigung mit Kästner auf die Spitze gebracht, dessen zwölfjähriges Berufsverbot sei ein von Kästner selbst gepflegter Mythos, weil etwa seine Mitwirkung am Drehbuch des Films „Münchhausen“ ein „direkter Auftrag von Goebbels“ gewesen sei. Nun aber eine nach Kästner benannte Straße umzubenennen, wäre, so schließt Graf, Ausdruck der mangelnden Fähigkeit, mit Ambivalenzen umzugehen. Unversehens reiht er sich bei jenen ein, die der Woke-Bubble einen moralischen Rigorismus vorwerfen, der sich in der Selbstgerechtigkeit und dem Schwarzweißdenken der 68er ebenso wiederfände, wie im Hitler-Faschismus. Auch wenn er in diesem Fall wohl auf Spatzen schießt – denn offenbar stand fragliche Namensänderung nie ernsthaft zur Debatte, diese These wäre es mehr als wert, anhand des Films öffentlich diskutiert zu werden. Womöglich hat sich die Berlinale davor gescheut. Am Samstag wird JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN auf der „Woche der Kritik“ zu sehen sein. Dominik Graf ist als Gast angekündigt.

Ralf Krämer

JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN, Regie: Dominik Graf, Deutschland/Frankreich 2023, 167 min.