Regisseur Christian Alvart im Interview zu „Freies Land“

Alvart: "Angst bestimmt unser Handeln"


Die ungleichen Ermittler Patrick Stein (Trystan Pütter, links) und Michael Bach (Felix Kramer) führt das Verschwinden zweier Mädchen in ein abgelegenes Dorf im ehemaligen Osten. © Verleih Telepool

Regisseur Christian Alvart feierte seinen Durchbruch einst mit „Antikörper„, der ihm die Türen nach Hollywood öffnete, wo er unter anderem „Fall 39“ mit Renée Zellweger realisierte, ehe er nach Deutschland zurückkehrte und einige „Tatort“-Teile drehte. Mit „Freies Land“ legt er einen düsteren Thriller vor, der im ehemaligen Osten in der Nachwendezeit spielt. Im Interview zu dem sehenswerten Genrefilm geht er auf Ost und West ein, erklärt Alvart, wie er Angst kreiert und wovor er selbst Angst hat.

Herr Alvart, Sie zeichnen in „Freies Land“ einen wilden, schmutzigen und auch anarchischen Osten, der Westen ist irgendwo im Hintergrund, aber noch nicht präsent. Sie stammen aus dem Westen. Wo sind Ihnen Ost und West begegnet?
Christian Alvart:
Seit drei Jahren lebe ich in Brandenburg, also im ehemaligen Osten. In Berlin habe ich zuvor nie im Westteil der Stadt, sondern immer im ehemaligen Osten der Stadt gewohnt. Da waren viele Ostdeutsche mit mir in WGs, ich hatte auch eine ostdeutsche Freundin. Mir hat eben dieses Anarchische gefallen. Die Wendejahre haben mir viele Begegnungen beschert. Ich war nach der Wende, aber vor der Wiedervereinigung, als Gesandter meiner Schule in Arnstadt. Deshalb war ich öfter in der DDR. Für mich, als jemand der 1974 geboren ist, war das ein großer Moment der Geschichte. Bei einem Familienbesuch vor der Wende empfand ich den Osten als ziemlich scary. Ab der Grenze, das wusste man, musste man aufpassen.

Und heute?
Gerade in der Branche muss ich auch bei Leuten, die ich seit mehreren Jahren kenne, nachfragen. Man weiß es nicht mal. Bei dem Stoff haben wir extrem darauf geachtet, um ein Korrektiv zu haben. Die Schauspieler, die Ostdeutsche spielen, sind – bis auf eine Ausnahme – aus dem Osten. Die konnten ihre Perspektiven einbringen.

Verwundert Sie, dass das auch heute für viele noch so ein großes Thema ist, wie ist das in Brandenburg?
In Brandenburg habe ich fast nur mit Ostdeutschen zu tun. Das Land teilt sich gerade wieder durch die politischen Verwerfungen. Das sieht man in den Kommentarspalten, wenn es darum geht, was den Osten bewegt. Unser Film beleuchtet einen Aspekt, der bisher zu kurz gekommen ist, nämlich dass jede Umwälzung, jedes so disruptive Ereignis, auch Ängste auslöst. Die Geschichte der Menschheit ist nicht nur eine der Ideologie und Philosophien, nicht nur eine von Träumen und Wünschen, sondern auch eine der Ängste. Angst bestimmt unser Handeln. Angst ist das Metier des Thrillers. Es gab wenige Thriller aus dieser Zeit, die diese Ängste thematisieren und dieses allgemeine Unwohlsein. Die fragen, was bedeutet es, wenn ein Land verschwindet. Deswegen kommt der Film zum richtigen Zeitpunkt, was diese Debatte angeht. So genau konnten wir das vor zwei, drei Jahren nicht absehen.

Wobei die Tendenz schon etwas länger da ist…
Eine leichte Tendenz, klar. Ich hätte erwartet, dass zum dreißigjährigen Jubiläum alles poliert wird und der Freudentaumel wieder neu zelebriert wird. Aber das findet nur formell statt und wird weniger gelebt.

Ist nicht sogar das Gegenteil der Fall, befeuert nicht jede Feier, jedes Jubiläum nur noch weiter die Wut der Verlierer des Wendeprozesses?
Das kann sein. Ängste sind nicht rational. Es hilft nicht zu sagen, euch geht es doch faktisch besser. Alle Wohlstandsdaten, alle statistischen Werte zeigen das, aber ihr seht nicht, wie gut ihr es habt. In unserer ersten Welt nehmen diese Luxusproblemchen einen solchen Raum ein. Das hat viel mit der Identität und dem Kern des Selbstbildes zu tun. Das steuert uns mehr als der Wunsch nach Essen, nach einem Dach über dem Kopf, nach Frieden. Diese viel wichtigeren Themen, die sind relativ safe. Die unwichtigeren Themen, das Selbstbild und die Wertschätzung, werden so wichtig, dass wir die anderen sogar dafür riskieren. Wir riskieren unseren Frieden, unseren Wohlstand, nur weil wir uns nicht respektiert fühlen.

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