Berlinale-Blog: Die Korrespondenz und ein Apfel – Forum und Panorama (3)


Filmszene: "Romeos", Foto: Tom Trambow

Filmszene: "Romeos", Foto: Tom Trambow

Viele Dinge, die die Berlinale zu dem machen, was sie ist, scheinen so konstant wie der rote Teppich vor dem Berlinale Palast. Der ewig graue Himmel mit hoher Niederschlagswahrscheinlichkeit beispielsweise. Zumindest das hat sich innerhalb der ersten Festivaltage nicht bestätigen können. Dafür jedoch eine andere Variante: die ungebrochene Beliebtheit der Sektionen Panorama und Forum. Beide halten auch dieses Jahr ihren Underdog-Status mit unkonventionellen Produktionen. Biede sind enorm stark besucht. So bezeichnet Wieland Speck, Leiter der Sektion Panorama seit 1992, diese selbst als Labor fürs Kino, in dem speziell Filme mit starken thematischen Schwerpunkten ihren Weg vor großes Publikum finden. Die spannende Mixtur aus Tendenzen des Arthouse-Kinos und einer Art Brückenschlag zwischen künstlerischen Visionen und kommerziellen Interessen begründen die ungemeine Beliebtheit des Panoramas. Herr Speck hat in das mehr als fünfzig Filme umfassende Programm 2011 gleich zwei Langfilme mit der Thematik Gender und Gender-Definition aufgenommen: „Tomboy“ von Céline Sciamma und „Romeos“ der deutschen Regisseurin Sabine Bernardi. Während „Tomboy“ als Rollenspiel eines Kindes mit unabsehbaren Konsequenzen verstanden werden kann, erlebt der Hauptdarsteller Lukas in Sciammas „Romeos“ eine zweite Pubertät unter dem Einfluss des künstlich eingenommen Hormons Testosteron.

Auch wenn beide Werke der Regisseurinnen nur einen kleinen Aspekt des gesamten Programms darstellen, weisen sie in ihrer kammerspielartigen Präsenz doch auf das Zentrum – den „Mensch“ und sein persönlicher Umgang mit dieser paradoxen Problematik. Natürlich beobachtet das Medium Film seit jeher ihn, den Menschen, als Erdenbürger, Sterblichen und nicht zuletzt als Individuum. Auf der 61. Berlinale geschieht dies jedoch mit einem solchen Interesse, dass der Vergleich einer bildhaften Studie nicht fern liegt. Ein überwältigender Beleg dessen ist Kevin McdonaldsLife In A Day„. In betörenden Bildern erzählt hier kein Regisseur die Geschichte eines Menschen – es erzählen die Menschen selbst in unterschiedlichster Weise über sich, ihr Leben, zeigen dem Kinozuschauer ihr Frühstück, ihre Tränen und Gedanken. Macdonald schnitt „lediglich“ die über 1000 Stunden Filmmaterial zusammen, das nutzergeneriert via Youtube eingereicht wurde. Ergebnis dieses gewaltigen Projekts ist die ungleich kitschige und zugleich sehnsüchtige Idee einer Erkenntnis, in der alle Menschen zu einem Wesen verschmelzen, das sich wiederum konzentriert in jedem von uns befindet. Ein komisches Gefühl und nicht weniger befremdlich, wenn es scheinbar von mehreren hundert Personen zeitgleich in einem Saal geteilt wird.

Filmszene: "Himmel und Erde"

Filmszene: "Himmel und Erde"

Das Internationale Forum des Jungen Films – kurz Forum – gilt hingegen als die risikofreudigste Sektion des Berlinale-Programms. Avantgarde, Experiment, Essay, Langzeitbeobachtungen, politische Reportagen und noch unbekannte Kinematografien: Im Forum begegnet sich alles, was noch neue, noch unübliche Wege geht. Leiter Christoph Terhechte beginnt sein Programm umgehend mit einer Geduldsprobe: Der fast fünfstündige Film „Himmel und Erde“ des Österreichers Michael Pilz. Zwischen den späten 70er und frühen 80er Jahren begibt sich dieser in ein Bergdorf in der Steiermark und schafft nicht nur das Gelingen eines Dokumentarfilms von gar epischem Ausmaß, sondern auch die Übersetzung harter körperlicher Arbeit in Bilder mit ätherischer Tönung. „Wer zufrieden ist mit dem, was er hat, der ist reich„, spricht der junge Pilz über eine Sequenz und ist dabei so ruhig, wie der dicke Junge beim Schneiden seines Apfels zur Brotzeit. Im Radio läuft ein Beitrag zur zweiten Ölkrise anno 1979, während die älteren Herren noch über die Inflation 1928 sinnieren.

Eine klare Trennlinie zwischen den beiden Sektionen zu ziehen, fällt dennoch schwer. Die Themen sind – natürlich – sowohl im Panorama, als auch im Forum politisch, gesellschaftlich und individuell relevant. Und selbst das vermeintlich weniger experimentierfreudigere Panorama zeigt einen Film, in welchem das Gros aller Kameramänner keine sind und es weder Drehbuch, noch Cast gibt – und der synchron an mehreren Orten entstand. Fügt man dieser Kleinstbeobachtung noch das GemeinschaftsprojektDreileben“ hinzu, kann man durchaus einen Aufbruch der Sektionsgrenzen beobachten, der nicht neu, aber seinen Weg fortzusetzen scheint. In „Dreileben“ arbeiten schließlich nicht nur drei Regisseure (Dominik Graf, Christian Petzold und Christoph Hochhäusler) gemeinsam und dennoch unabhängig an dem Theorem „Filme in Korrespondenz“, sondern verschmelzen Forum und Panorama zu einem. So ist die von Wieland Speck bezüglich des Panoramas gebrauchte Analogie zwischen Labor und Kino keine schlechte, nur kann man sie mit gutem Gewissen erweitern, übertragen und ihr sogar den Begriff der Synthese hinzufügen. Schön.

Carolin Weidner