Delicatessen – Das Berliner Tischgespräch im April 2011 – Teil 2


tausche tasche achtung berlin

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Was umtreibt Gudrun Ensslin?

Schäfer: Es ist so viel über „Wer wenn nicht wir“ gesprochen worden. Dass der Film gut ist, brauche ich gar nicht sagen, aber es gibt einen Punkt in der Geschichte, mit dem ich Schwierigkeiten hatte. Das war, als Ensslin sich entschieden hat, die Familie zu verlassen.
Veiel: Hast du Kinder?
Schäfer: Ich habe einen Sohn.
Veiel: Ich frage, weil ich es sehr interessant finde, von welcher Perspektive aus argumentiert wird. Ist es für dich die Szene in der Telefonzelle oder im Zimmer.
Schäfer: Schon die im Zimmer. Da habe ich gedacht, dass glaube ich nicht, dass die das einfach so macht. Ich denke, ich hätte noch mehr Futter gebraucht um zu glauben, dass sie ihre Familie und ihr Kleinkind verlässt.
Veiel: In der Auseinandersetzung mit Bernward gibt es noch kein Verlassen. Die Option der Rückkehr bleibt bestehen. Im Brief schreibt Bernward: „Solange Felix da ist, gibt es auch uns.“ Den Schritt vollziehen sie zehn Filmminuten, circa eineinhalb Jahre später. Für mich war wichtig zu zeigen, dass das eine Operation am offenen Herzen war. Eine liebende Mutter, die sich das ausreißt, weil auf der anderen Seite die Weltrevolution steht. Der Preis muss hoch sein. Für viele bleibt Ensslin eine Medea. Für mich ist nicht zu hundert Prozent belegbar, dass die Gründe sich addieren und die Entscheidung dann zwangsläufig fällt. Viele andere entscheiden sich in einer ganz ähnlichen Situation für das Kind. Wie zum Beispiel Gerd Conradt, mit dem ich gestern gesprochen habe. Er hat sich dennoch für seine Entscheidung feige gefühlt. Bei ihm blieb das Schuldgefühl, es nicht getan zu haben.

Schäfer: Genau das ist es, ich habe diesen Sog nicht gespürt.
Veiel: Das ist vielleicht der Mythos der 68er, dass da ein großer gesellschaftlicher Drift war. Aber anfangs trafen fünf oder sechs Menschen die Entscheidungen. Bei den Bildern von Rudi Dutschke rund um die Vietnam-Konferenz, da gab es den Anschein einer Weltbefreiungsbewegung. Ich selbst bin desillusioniert bezüglich der Breite der Bewegung. Im Gegenteil, individuelle Beweggründe und Entscheidungen gebündelt in einer kleinen Gruppe gaben den Ausschlag. Ein Journalist warf mir vor, dass der Eros des Steinewerfers im Film fehlen würde. Dieser Moment, einen Stein auf einen Bullen zu werfen. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass er den verspürte. In seinem Geist steht er beim 1. Mai und denkt, mit der eigenen Kraft dem Staat entgegen zu treten. In Form eines Steines gegen eine grüne Uniform. Eine Lust am Tun.
Schäfer: Vielleicht ist es ihr aber gar nicht schwer gefallen?
Nord: Beim Lesen der Briefe hatte ich schon den Eindruck, dass es ihr schwer gefallen ist. Das ist die Schwierigkeit bei einem Spielfilm, der nur ein begrenztes Zeitkontingent erlaubt. Entscheidungen, die lange brauchen, weil sie noch nicht abgeschlossen sind brauchen Zeit. Das geht möglicherweise zu schnell im Film.

Schokomousse

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Veiel: Für mich waren ihre Beweggründe spannend. Sie sagt: „In Kuba war es möglich mit Wenigen eine Armee zu besiegen, also schaffen wir das auch.“ Ein rationales Argument. Siehe Fidel Castro. Es gab einen Andreas Baader, sehr viele andere Befreiungsbewegungen, das Drohen eines neuen Faschismus, das Versagen des eigenen Vaters. Es ergibt sich ein Auftrag aus der Addition der Gründe. Trotzdem bleibt ein Stück Irrationalität. Das ist keine mathematische Gleichung. Das Problem ist, dass die Leute von einem Film am Ende ein Stück finale Klarheit erwarten. Sie wollen nachvollziehen, warum die das gemacht hat. Ich bleibe da aber zu einem Stück weit außen vor. Genau wie bei den Gründen zum Freitod. Es bleibt ein Rest, der nicht erlaubt, die Hürde der Gewissheit zu überschreiten. Alle Einzelteile, die ich über die Jahre gefunden habe, sind für sich betrachtet zu wenig. In der  Summe ist es aber auch zu wenig. Das ist das Unbefriedigende. Ich kann auch nicht sagen, warum Bernward Vesper sich umbringt.

Schäfer: Wobei das emotionale Moment sich schon sehr auf ihn gerichtet hat. Gudrun wirkt dagegen sehr kühl.
Veiel: Gudrun hat auch gelitten. Sieh dir die Telefonszene an. Sie betoniert ihre Emotion ein. Das fand ich bei Lena Lauzemis als Schauspielerin interessant, dass sie das schafft. Man sieht sie in der Szene unheimlich schnell sprechen und heulen. Wir haben diskutiert, wie deutlich wir ihre Verzweiflung machen. In der Szene mit Bernward heult sie. In der Szene mit dem Kind heult sie. Als Bernward reinkommt, sieht man, sie hat geweint. Das ist dann mit der Pinzette argumentiert.
Nord: Was ich mich frage, ob man so einen Moment herauspräparieren könnte, aus der großen Erzählung „Die 60iger Jahre – die Vorgeschichte der RAF“ und dem dann 90 Minuten widmen, mitsamt der ganzen Irrationalitäten. Eben diesen Moment abstecken, indem man irgendwohin muss, aber noch nicht kann.
Veiel: Für mich war wichtig, dieses Terrain sehr genau abzugehen, weil ich selbst viele Fragen hatte.
Nord: Mit Terrain meinst du die Zeit?
Veiel: Genau, 1961 einzusteigen. In wie weit man sich in einem weiteren Werk, das nicht ich machen muss, über die historischen Wahrheiten hinwegsetzt, das Landvermessertum hinter sich lässt.
Nord: So „Inglourious Basterds„-mäßig.
Veiel: Vielleicht gibt es dann ähnlich dem Deutsche Bank Gebäude ein RAF-Gebäude, auf dem oben dieses Logo zu sehen ist. Alle tragen diese T-Shirts und die haben gewonnen. Es wäre spannend das weiter zu denken. Was das für ein Staat wäre. Es gäbe überall Andreas-Baader-Plätze.
Kahl: Es wäre eine Wirkleichkeit wie bei  Gaspard Noé.
Veiel: Für mich selbst wäre das ein Punkt, sich komplett zu befreien.

Der Service unterbricht und serviert die finale Runde an Köstlichkeiten. Gereicht werden als Desserts: Obstsalat und Schokoladenmousse.

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