Interview: Dr. Mark Benecke seziert Alfred Hitchcock


Dr. Mark Benecke, Foto: Rocksaupicture

Dr. Mark Benecke, Foto: Rocksaupicture

Sie sind die Lehrmeister des Schreckens: Alfred Hitchcock und Dr. Mark Benecke. Zum Auftakt der Hitchcock Retrospektive (17. Juni bis 14. Juli) im Babylon Mitte, am kommenden Freitag den 17. Juni um 19.30 Uhr, nimmt der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke Hitchcocks Leichen genauer unter die Lupe und geht für das Publikum auf Spurensuche. Vorweg reicht das Babylon einen „Cocktail für eine Leiche„. Doch danach wird es blutig. Mark Benecke reißt das Höllentor auf, wie er sagt. Wir sprachen mit dem Forensiker vorab über seine Arbeit und Alfred Hitchcocks Abgründe.

Herr Benecke, Sie sind als Herr der Maden bekannt, als Kriminalist, der die Todesursachen bei Opfern von Gewaltverbrechern untersucht. Wie seziert man einen Filmemacher wie Alfred Hitchcock?

Wir sezieren ihn, indem wir anhand von Filmbeispielen auf zwei Sachen schauen. Erstens: Wo sind überhaupt die Stiche, die Schnitte oder die ausgehackten Augen? Und würde das in Wirklichkeit auch so aussehen? Das wird dann verglichen mit echten Fällen, damit man das vergleichen kann. Es wird also recht blutig. Bei Hitchcock fällt übrigens auf, dass der häufig etwas hatte mit blonden Frauen, die offenbar wohl auch immer erwürgt werden mussten.

Die kühle, anständige Blondine, die immer etwas sehr sinnliches hat….
Ja, das war wohl sein Ding. Aber, wie kommt es, dass jemand offenbar so eine bestimmte Vorliebe für bestimmte Leichen hat, die er dann filmisch darstellt? Wir werden da vielleicht auch etwas zum seelischen Hitchcock sagen. Auf der objektivierbaren Ebene kann man darüber hinaus aber noch untersuchen, was passiert, wenn man derartige Verletzungen erhält. Also, fällt man da überhaupt um, stirbt man, spritzt das überhaupt oder würde das nur herunterlaufen? Wie schnell vertrocknet etwas, wenn da Vögel dran picken? Oder wie schnell setzt die Leichenstarre ein, wenn man die in irgendeinen Sack oder in ein Handtuch packt? Lauter solche Sachen.

Das wird also eher eine Art Lehrstunde in Sachen Mord. CSI lebendig im Babylon.
Beziehungsweise CSI unlebendig. (lacht) Da ist schon Beides drin.

Haben Sie einen persönlichen Bezug zu Alfred Hitchcock, irgendetwas, das Sie an der Person besonders reizt?
Hm, ja. Ich finde es sehr interessant, dass Menschen, die sich eigentlich gerade angesichts dieser Delikte in die Hose machen müssten, da diese teilweise extrem eindrücklich dargestellt werden, Hitchcock wie einen Superstar feiern. Da fragt man sich natürlich, warum erlauben die Menschen diesem Regisseur das so zu tun, wo man sich doch normalerweise total fürchten müsste. Hitchcock fällt da besonders auf. Es gibt eigentlich nur wenige Autoren, bei denen die Delikte und die Leichen ebenso genau beschrieben werden. Das ist eher selten. Mich wundert, dass diese Leute einen Schleier vor den Augen haben und gar nicht sehen, wie krass Delikte bei Hitchcock eigentlich sind, denkt man etwa an „Die Vögel„. Als ich mir jetzt die Filme noch einmal angesehen habe, war ich oft schon sehr geschockt.

Weil Hitchcock schon damals so makaber bzw. radikal war?
Dieses Makabre halte ich für vorgeschoben. Ich glaube echt, das ist eher radikal, weil er so nah mit der Kamera herangeht und er seine Opfer sehr langsam sterben lässt. Wie die Leute danach noch schlafen können? Das Interessante daran ist, dass man immer sagt, das sei nur fiktional und nicht wirklich. Da ist es dann immer erlaubt, wenn jemand so etwas macht. Da kommt diese Projektion, dass man vielleicht seinen Chef auch hin und wieder gern um die Ecke bringen würde. Im Film ist das plötzlich erlaubt. Es ist ein bisschen wie bei meinen Veranstaltungen. Da fragen wir uns auch oft, wie die Zuschauer das überhaupt aushalten. Die Reaktion am Ende ist immer eher eine Befreiung, wie bei den Krimis eben auch. Hitchcock ist da auf jeden Fall, auch wenn ich mich in der Filmgeschichte nicht so auskenne, ein absoluter Vorreiter.

Da hat natürlich ein Krimi so eine Art Funktion des stellvertretenden Erlebens.
Absolut! Und Katharsis in einer Form von Stellvertretertum, wo man nicht sagen muss, dass jeder Einzelne genau das durchleben möchte. Aber dadurch, dass der Zuschauer so nah auf diese schreckliche Reise mitgenommen wird, kann er etwas erleben, von dem er vielleicht nicht genau wusste, was es ist. Man weiß, dass es auf jeden Fall auf der Leinwand endet. Aber es soll in meinen Veranstaltungen schon so sein, dass ich einen Schleier wegreiße, und das Höllentor aufreiße.

Werden Sie vor diesem Hintergrund eigentlich auch regelmäßig als Experte beauftragt, Drehbücher auf ihre forensische Genauigkeit hin durchzusehen?
Ja, ich versuche das an vielen Fronten. Immer da, wo es überhaupt Sinn macht, Realitäten einfließen zu lassen. Bei der Serie CSI New York war es beispielsweise so. Da habe ich zum Beispiel noch einmal die Übersetzung durchgesehen. Oder es gibt Filme, wo ich nur die Leichen anschaue und sagen muss, ob die realistisch sind oder nicht. Meine Erfahrung ist aber, immer dann, wenn ich sehr realistische Effekte einfließen lasse, dann wird es offenbar zu schrecklich und dann wollen die Leute es dann lieber doch nicht haben. So gesehen, mache ich zwar viele Beratungen, aber ob sich das dann niederschlägt, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Dafür klären Sie dann aber in ihren Veranstaltungen ein bisschen genauer auf. Das bringt mich zu meiner vorletzten Frage. Wie hoch war denn die Aufklärungsrate der Morde zu Zeiten Hitchcocks, also bevor man den genetischen Fingerabdruck nachweisen konnte?
Naja, es haben sich zwei Sachen verändert. Da wir in Europa überaltern, ist das einer der Gründe, warum es immer weniger Delikte in diesem Bereich der Gewaltkriminalität gibt. Die Anzahl der Morde sinkt rapide. Deswegen ist es mit der Aufklärungsrate so eine Sache. Wenn man weniger Delikte hat, kann es also dazu kommen, dass man relativ mehr davon aufklärt. Aber in Wirklichkeit ist das unbekannt. Die Wahrheit ist, dass kein Mensch weiß, wie hoch die Anzahl der aufgeklärten Delikte ist. Bei Tötungsdelikten, wie bei Hitchcock, ist es so, dass man davon ausgeht, dass die Quote je nach Bundesland und Stadt in Deutschland zwischen 85 und 95 Prozent oder noch höher liegt. Aber natürlich weiß keiner, was mit denen ist, die nicht entdeckt werden. Was zu Hitchcocks Zeiten noch nicht verstanden wurde, war, was die eigentliche Triebkraft der Täter war. Das war damals nicht gut beschrieben. Hier ist tatsächlich ein Quantensprung passiert. Blutspurenuntersuchungen etc. konnten erfahrene Polizisten im Einzelfall vielleicht genauso gut wie die Kollegen heute. Aber natürlich hat sich in Sachen High-Tech, also in der Analyse der genetischen Fingerabdrücke auch jede Menge entwickelt. Aber das ist auch nicht so wichtig, bzw. das würde ich nicht so stark betonen. Denn eigentlich ist schon Sherlock Holmes eine Art CSI gewesen. Mein Beruf des naturwissenschaftlichen Kriminalisten wurde von Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle erfunden. Deswegen ist es ein Irrtum zu glauben, dass erst mit der neuen Technik derartige Morde aufgeklärt werden konnten. Schon damals war es mit kriminaltechnischen Methoden möglich, Morde aufzuklären. Natürlich ist man heute präziser. Ob damit allerdings die Aufklärungsquote gestiegen ist, das weiß ich nicht. Allerdings ist die Quote der gerechten Verurteilungen gestiegen.

Gibt es einen Film von Hitchcock, der Sie besonders geprägt oder herausgefordert hat, weil er so besonders schockierend war?
Nee, die haben es eigentlich alle in sich. Ich muss aber ganz kurz dazu sagen, dass ich eigentlich total die Sissy bin. Ich habe bestimmt seit zehn Jahren keinen Krimi mehr gesehen. Ich habe auch gar keinen Fernseher. Aber, um die Frage zu beantworten, mich beeindruckt besonders die filmische Umsetzung bei Hitchcock. Zum Beispiel in „Frenzy„, wie sich hier die Kamera – offenbar aus einem Flugzeug heraus gefilmt – dem Ort des Unheils von oben nähert und über die Tower Bridge fliegt, um dann in der Themse eine Wasserleiche zu finden, das ist einfach Lichtjahre von Splattermovies oder billigem Horror entfernt. Das ist einfach großartig umgesetzt.

Das Gespräch führte SuT

Retrospektive Alfred Hitchcock im Babylon Mitte