Festivalbericht: Filmfest Eberswalde 2011
Faszination Schaf
Schafe, die in Herden ihre Wege ziehen, ironisch gebrochen mit urban konnotierten Schlagworten, wie Rush Hour, Schnellimbiss oder Umweltzone, machen sich am Ende des Eberswalde-Festivaltrailers auf „nach Hause“. Des Pudels Kern, die Provinziale, ist erreicht. Zwischen dem 1. und dem 8. Oktober 2011, rückte das Festival die Belange der Provinz in den Vordergrund. Vom Bahnhof Gesundbrunnen, Berlin Wedding, gerade mal eine halbe Stunde entfernt, lockt das Filmfest der „Waldstadt“ Eberswalde jährlich rund 2.000 Zuschauer in das Paul-Wunderlich-Haus, das in der Festivalwoche als Kino fungiert.
Die Szenen im Trailer stammen aus „Off The Beaten Track“ von Regisseur Dieter Auner aus Österreich. Noch bevor die Projektion beginnt, fordert Kenneth Anders aus dem Festivalteam die Zuschauer auf, „die Bedeutung des Schafs anzuerkennen“ und erklärt, dass „Modernisierung nicht Abschaffung der Schafhaltung bedeutet„. Der Mann ist kein verschrobener Waldschrat, sondern ortsansässiger Kulturwissenschaftler und sitzt in der Programmkommission „Dokumentarfilm“ des Filmfestivals. Er weiß wovon er spricht und schafft es in der vergangenen Festivalwoche immer wieder, den Kontext zwischen dem auf der Leinwand gezeigten und der eigenen Umwelt herzustellen.
Moderne vs. Tradition
Besagter „Off The Beaten Track“ nimmt seine Zuschauer mit nach Rumänien, in eine Region, in der über Generationen Familien mit der Schafzucht ihr Leben bestritten. Ein regionales Modell, das überholt scheint, seit die Bauern gegen die internationaler Konkurrenz und den stetigen Preisverfall ankämpfen, ihre Frauen in wenigen Wochen im wohlhabenden Deutschland mehr verdienen, als die restliche Familie mit der traditionellen Schaf-Wirtschaft im ganzen Jahr. Auner beobachtet, wie sich das Gefüge des ganzen Landes verschiebt, angefangen im Mikrokosmos Familie, bis zur Dorfgemeinschaft und über die Landesgrenzen hinaus. Eine bemerkenswerte, wenn auch arg lang geratener Studie des karpatischen Landlebens inmitten des miteinander verschmelzenden Europas, dem an vielen Stellen eine Straffung und Verdichtung des Themas zu wünschen war.
Während sich die rumänischen Schaf-Bauern noch an ihre neue Welt anpassen müssen, erzählt die Regisseur Klaus Stern in „Henners Traum – Das größte Tourismusprojekt Europas“ von der künstlichen Neu-Definition ländlichen Raumes in Deutschland, genauer in Hessen. Inmitten der Provinz, namentlich Hofgeismar, planen Bürgermeister Henner Sattler und sein Einflüsterer, der Architekt Tom Krause, ein touristisches Superressort, das seinesgleichen in Europa suchen soll. Nachdem die beiden Einwohner und Politiker den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Koch überzeugt haben, gilt es die Finanzierung des Multi-Millionen-Euro-Projekts zu stemmen. Die Filmemacher heften sich über Jahre an die Fersen des ebenso wackeren, wie naiven Henner Sattler, der mit ungemeiner Beharrlichkeit um seinen Traum kämpft, während sein Verbündeter Krause schon die nächsten Luftschlösser im blauen Himmel zeichnet.
Die Dokumentation entwickelt eine unheimliche Komik, in Momenten, in denen sich die Protagonisten selbst entblößen, manchmal so sehr, dass die Zuschauer mit ihnen fühlen. Doch wie wenig Mitleid angemessen ist, zeigen andere Momente, in denen das Gemauschel in der großen und kleinen Politik zum Vorschein kommt. Geradezu erlösend die kritischen Fragen des potentiellen Investors Tomasini gegen Ende der jahrelangen Suche nach Geld (oder Gold?). Als kühl kalkulierender Vertreter der sonst so gescholtenen Märkte unterwirft er seine Beurteilung zuvorderst kaufmännischer Vernunft und will von Traumschlössern nur wenig wissen. Im anschließenden Publikumsgespräch zeigt sich „Heimatfilmer“ Stern sichtlich stolz ob seines Werks und berichtet vom weit verbreiteten Phänomen der „Bürgermeister, die Gold heben wollen„. Nur wenige Momente später erinnern sich die Gäste des Eberswalder Festivalclubs an Wahnsinnsprojekte der Region – und atmen durch, als ihnen klar wird, dass sie von den Sattlers und Krauses des Landes bisher verschont blieben.