4. Unknown Pleasures Babylon Mitte

Nebeneinander von Stil und Realität


Filmszene: "Silver Bullets", Foto: Joe Swanberg

Filmszene: "Silver Bullets", Foto: Joe Swanberg

Was wurde nicht schon alles über US-amerikanisches Independent-Kino geschrieben? Jedes Mal, wenn man sich in Sicherheit wiegt, eine griffige, lexikale Definition anbieten zu können, taucht ein neuer Nobody aus dem Nichts aus und wirft das Bestehende einfach um. John Cassavetes („Ich mache gern schwierige Filme, bei denen die Leute schreiend rauslaufen. Ich bin schließlich nicht in der Unterhaltungsbranche.„) ist mit Kenneth Angers („Ich habe FIlme schon immer als etwas Bösartiges betrachtet. Der Tag an dem das Kino erfunden wurde, war ein schwarzer Tag für die Menschheit.„) nur sehr bedingt kongruent und von Quentin Tarantino trennt die beiden nicht nur die Reputation, sondern auch Sprüche wie „Gewalt im Kino? Es ist interessanter, einem Auto beim Explodieren zuzuschauen als beim Parken.„. Eines ist jedoch merkwürdig. Wenn man einen Independent-Film vor sich hat, ist es fast so, als wenn der Streifen den Zuschauer erkennt und ganz und gar für sich beansprucht. Dieses Nebeneinander von Stil und Realität könnte der eigentliche Kern aller unabhängigen Zelluloidmontagen aus Übersee sein.

Vom 1. bis 15. Januar findet im Babylon die vierte Ausgabe von Unknown Pleasures statt.  Eröffnen darf das Filmfestival der mittlerweile 38. Film von Frederick Wiseman Boxing Gym„. Faustkämpfer und Philosophen konvergieren in einer unbeheizten Halle, die vom Trainer Richard Lord  schnörkellos und mit street wise geführt wird. Menschen verschiedenen Alters, Herkunft und Talent trainieren hier und ihre Fäuste trommeln im eigenen Takt gegen geduldige Sandsäcke und erzählen somit kinetisch ihre eigene Geschichte. Es dürfte nur müdes Gähnen und rollende Augen hervorrufen, wenn man jemanden Ratschläge gibt wie: „Bring sie doch mal zum Lachen„. In Guy DefasBad Fever“ versucht sich ein durch und durch humorloser Knochen als Comedian – weil er verliebt ist. Ob es nun das wahrscheinlich erste ernsthafte Chick Flick oder ein (weiteres) gelungenes Drama ist, hängt wohl vom Melancholiebedürfnis des Zuschauers ab. Zwei der prägnantesten Exemplare des „Film-Im-Film“-Subgenres kamen Anfang der 1990er auf den Markt: Tom DiCillos „Living in Oblivion“ und John McTiernans „Last Action Hero„.

Der Erste von beiden wurde über Jahre hinweg als Musterbeispiel eines amerikanischen Independentfilmes gehandelt, der Zweite war ein kommerzieller Flop und intellektuelle Wichsvorlage der Poststrukturalisten. Welches Schicksal nun Joe SwanbergsSilver Bullets“ ereilen wird, ist im Moment nicht abzusehen. Jedoch ist sein Film, der eine Dreiecksbeziehung über die Besetzung der Hauptdarstellerin in einem Werwolf-Film zum Topos erklärt, allein schon von der Ausgangsidee her zu abgedreht, um einfach in der Versenkung zu verschwinden. Ob es Voyeurismus ist, der am liebsten bis ins Schlafzimmer vordringen würde und bei der Herrentoilette in seine Grenzen verwiesen wird oder die destruktive Lust an der Zerstörung von Illusionen Anteil daran hat, dass der US-amerikanische Independentfilm seit Dekaden gerade europäisches Publikum so begeistern kann, ist so ungewiss wie die Definition des Wortes Independent. Gewiss ist jedoch die Qualität der einzelnen Filme und die dabei verschwendete Lebenszeit.

Joris J.

Unknown Pleasures, 1. bis. 15 Januar, Kino Babylon, www.unknownpleasures.de

FESTIVALMACHER IM PORTRÄT: HANNES BRÜHWILER