Die Panorama-Sektion der 62.Berlinale
Als Kavalier zur Seite stehen
Die Panorama-Sektion der 62.Berlinale verspricht mit Sicherheit vieles: egomanische Selbstfindungstripps („Brötzmann – Da gehört die Welt mal mir„, Uli M. Schueppel), bewegte Männer („König des Comics„), verstörte Frauen („Dollhouse, Love„), Gewissensfragen („La mer à l’aube„) und Gewissensbisse („The Summit„). Ja es wird heftig und obwohl im Schnitt artifiziell gehalten, so wird die Grenze des guten Geschmacks mehr als nur einmal übertreten. Bei all der Melodramatik fehlt dem geneigten Zuschauer eigentlich nur noch ein Film über Neros Mord an seiner Gattin Octavia im Jahre 62. So wird in „Dollhouse“ (Kirsten Sheridan) gesoffen, gehurt, geraucht und geboren. Caspar Brötzmanns Weltaneignung ist nur ein klein wenig unprätentiöser als die seiner (West)berliner Kollegen Einstürzende Neubauten. Naoko Ogigamis „Rentaneko“ präsentiert ein sehr japanisches Konzept um Einsamkeit zu bekämpfen – Katzenvermietung. Die Protagonistin Sayoko betreibt damit zwar ein florierendes Geschäft, doch mit jedem Mehr vom Netto vereinsamt sie zunehmend. Miauen und Four-Letter-Words scheinen hier das verbale Ende des sozialen Lebens zu symbolisieren.
Héléna Klotzs „L´age atomique“ portraitiert ein Paris, dem irgendwie gar nichts Leichtes mehr anhaftet. Es ist schwer, trist und ebenso einsam wie „Rentaneko„. Jedoch ist es ungleich schmutziger und promiskuitiver. Die Trinität des künstlichen Paradieses aus Sex, Drogen und Vergessen wirkt ebenso verbraucht und überflüssig wie die katholische Kirche. Man kann nicht enthaltsam leben – verausgaben ist irgendwie langweilig geworden. Was tun? Am besten so lange wiederholen bis das Sinnlose einen Sinn ergibt. Etwas mystischer und wesentlicher deutscher wird die Einsamkeit in Julian Roman Pölslers Literaturverfilmung von Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ ausgespielt. Eine Hütte in den Bergen und ein Wirtshaus im Tal – es dürfte schwieriger werden noch eingängiger (und simplifizierender) den Kampf um ein soziales Leben zu veranschaulichen. Volker Schlöndorff dagegen widmet sich in „La mer à l’aube“ dem Kampf um Selbstbestimmung und der Frage nach Schuld. Es geht um den französischen Hans Scholl Guy Moquet, der am 22. Oktober 1941 in Châteaubriant für das Verteilen von Flugblättern während der deutschen Besatzung erschossen wurde, den deutschen Schriftsteller Ernst Jünger, der mit der Aufklärung an dem Mord an einem Wehrmachtsoffizier betraut wurde und später das Ganze so resümiert, das man „eigentlich nur Fehler machen kann, ob man handelt oder nicht handelt.“ und einem jungen Heinrich Böll, der zu einer Schießübung verdonnert wird. Drei sehr unterschiedliche Charaktere, die auf drei sehr unterschiedlichen Ebenen ein trauriges Vexierspiel geben müssen und so die Bedeutung eines friedfertigen Europas mit genügend Schärfe verdeutlichen.
Eine wesentlich leichtverdaulichere Männerwirtschaft darf in Rosa von Praunheims „König des Comics“ betrachtet werden. Hier geht es um den schwulen Comic-Künstler Ralf König und seinen Werdegang. Angefangen bei seiner Kindheit und Jugend im westfälischen Werl über sein Coming-Out und seinen ersten schwulen Sex. Weiter geht es mit den Jahren an der Uni, seinen ersten Comics und dem Engagement in der Schwulenbewegung. Er spricht ebenso offen über seine langjährigen Beziehungen wie über seine kurzfristigen Affären. Selten war ein Dokumentarfilm, der das Thema gleichgeschlechtliche Liebe zum Sujet hat, so witzig und hetentauglich. Wo die Neurosen dem Individuum sein Tun erleichtern, es beqem machen und ihm Denk- und Orientierungsarbeit ersparen, wirken die Filme der Panorama-Sektion scheinbar gleichgültig. Sie erfüllen die Form und laufen – mal herzzereißend, mal nachdenklich machend. Dennoch bleiben sie sich selbst treu und stehen dem Eigenbrötler des frühen 21.Jahrhunderts als Kavalier zur Seite.
Joris J.
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