Interview mit Filmemacherin Marjane Satrapi

"Kunst hat keine Pflichten"


Mathieu Almaric

Mathieu Almaric als Nasser Ali Khan

Während Sie in „Persepolis“ Ihre eigene Biographie verarbeiteten, steht nun die Ihres Großonkels im Fokus.
In einem Familienalbum entdeckte ich diesen gutaussehenden, romantischen Typen. Ich erfuhr, dass er ein fantastischer Musiker war und die Menschen sich in der Straße niederließen, um zuzuhören, wenn er probte. Er starb sehr traurig. Das ist das einzige, was ihn mit Nasser-Ali aus dem Film verbindet. Alles andere habe ich erfunden. Ich erzähle Geschichten, die mich berühren und die auf eigenen Erfahrungen beruhen. Selbst Zombie- und Vampir-Filme bedienen sich bei Erfahrungen. Eigenen Erinnerungen oder Dingen, die einem erzählt wurden, etwas Vertrautem. „Persepolis“ erschien vielen sehr politisch. Ich empfand ihn eher als humanistisch. Der Mensch als soziales Wesen und wie er überlebt. Natürlich steckt dahinter mehr. Bei „Persepolis“ die im Iran verfliegende Hoffnung auf Demokratie in den 50er-Jahren. Das unterfüttert die Geschichte, aber darüber spielt das Melodram eine wundervolle Liebesgeschichte. In diesem Land, von dem heute nur noch die atomare Bedrohung wahrgenommen wird, starb 1958 ein Mann aus Liebe zu einer Frau. Es gebührt dem Respekt, dass wir uns für die Menschen und für ihre Romanzen interessieren.

Wollen Sie mit Ihrem Schaffen zeigen, dass da mehr ist, als diese klischeehafte Skizze des bösen Iran?
Der Iran hat eine Geschichte, die vor den Atomwaffen beginnt. Müssen Iraner Filme über die Revolution machen und Israelis Filme über den Gaza? Kein Deutscher darf nur Filme über den 2. Weltkrieg machen. Dieses Recht haben wir auch. Ich will eine Brücke bauen und zeigen, dass wir einander vielmehr ähneln, als dass wir uns unterscheiden. Im deutschen Studio Babelsberg einen französischen Film über den Iran mit Schauspielern aus Portugal, Italien, Iran und Frankreich zu drehen, zeigt, dass Multikulti kein Desaster ist.

Wie beurteilen Sie die Situation im Iran heute?
Ich bin die falsche Person, um darüber zu sprechen. Ich war seit zwölf Jahren nicht mehr dort. Auch „Persepolis“ endete an dem Punkt, an dem ich den Iran verließ. Jede Information über die ich verfüge, stammt aus zweiter Hand. Meine Vorstellung vom Iran ist von Nostalgie geprägt und nicht real. Meine Perspektive auf den heutigen Iran behalte ich für mich.

Ist es eine Pflicht der Kunst, das Denken der Menschen zu verändern?
Nein, die Kunst hat keine Pflichten. Kunst ist Kunst. Nehmen wir das goldene Zeitalter des amerikanischen Kinos: Da drehten Leute wie Lubitsch, Billy Wilder oder Hitchcock. Menschen, die keine Amerikaner waren, sondern dorthin kamen, um Filme zu machen. Lubitsch zum Beispiel, der mein Vorbild ist, mit dem ich mich nie vergleichen würde, drehte amerikanische Filme mit osteuropäischem Spirit. Sein „Shop Around The Corner“ spielt in Budapest. Mit amerikanischen Schauspielern und osteuropäischem Humor. Wir müssen die Grenzen überwinden. Es muss nicht mehr jeder Deutsche im Film Schmidt heißen oder jeder Franzose Jean-Claude.

Sie arbeiten erneut mit Vincent Paronnaud. Wie profitieren Sie voneinander?

Wir sind komplett unterschiedlich. Deshalb arbeiten wir zusammen. Aber in den großen Fragen, was die Wahrnehmung von Kunst oder der Gesellschaft angeht, denken wir ähnlich. Wir nehmen uns gegenseitig mit an Orte, die wir ohne den anderen nicht erreichen würden. Am Set sind die Aufgaben verteilt. Er kümmert sich eher um die Kamera, während ich mit den Darstellern arbeite – aber gleichzeitig haben wir eine genaue Vorstellung von dem, was der andere gerade tut. Wir werden sicherlich wieder zusammenarbeiten, aber wir werden auch ganz sicher Projekte ohne den anderen verwirklichen. Wir sind nicht die Coen-Brüder oder die Dardennes. Er ist Franzose, ich bin Iranerin, er ist ein Mann, ich eine Frau. Wir sind unterschiedlich, aber es ist sehr aufregend mit ihm zu arbeiten.

Haben Ihnen die zahlreichen Auszeichnungen, die Sie für „Persepolis“ erhielten als Filmemacher geholfen?
Kein Bisschen. Wir dachten, die Preise und die Oscar-Nominierung würden uns helfen, aber im Gegenteil: Jeder erwartete den nächsten Animationsfilm in schwarzweiß von uns. Ein „Persepolis 2“. Als wir von der Idee einer Liebesgeschichte erzählten, die in einem Studio gedreht werden soll, fragte jeder: „Warum“? Es wäre deutlich einfacher gewesen, eine weitere Animation zu machen, aber es ist nicht sehr interessant, immer das Gleiche zu tun. Ich möchte neue Erfahrungen machen. Beim nächsten Projekt werde ich wieder bei Null anfangen. Darauf bin ich vorbereitet.

Sie sehen Ihre beiden Filme als Teil einer Trilogie. Wovon wird der Dritte handeln?
Er wird von meiner Großmutter handeln, die aus ihrem Elternhaus abgehauen ist, um den Mann, den sie liebte, zu heiraten. Aber das Skript muss erst noch geschrieben werden. In der Zwischenzeit werde ich aber erst noch ein anderes Projekt übernehmen.

Also ein Buch von jemand anderem umsetzen?

Ja. Das ist neu für mich. Ich werde einen anderen Teil meines Hirns nutzen müssen. Vielleicht endet es in einer Katastrophe – aber ich versuche es.

Die Fragen stellte Denis Demmerle

Huhn mit Pflaumen„, Regie: Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud, Darsteller: Isabella Rossellini, Jamel Debbouze, Maria de Medeiros, Mathieu Amalric, Golshifteh Farahani, Kinostart: 5. Januar

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