Rückblick auf das 18. Jüdische Filmfestival Berlin & Potsdam
Gelebte Leben zwischen gestern und heute
Mehr Kinoplätze für Juden und Nicht-Juden: Das ist es, was das Jüdische Filmfestival Berlin & Potsdam im nächsten Jahr brauchen wird. Denn so gut wie jede Vorstellung des diesjährigen Festivals war ausverkauft. Mitunter saßen die Besucher sogar auf den Stufen, während das Volk draußen der WM im Public Viewing frönte. Doch wer Glück hatte, eine Kinokarte zu ergattern, konnte beispielsweise im Souterrain des gläsernen Towers des Kino Arsenal nicht nur die Kühle und Ruhe, sondern auch die geistige Nahrung Film genießen. Den Anfang machte das Potsdamer Hans-Otto-Theater mit der Festivaleröffnung. Bereits diese zog zahlreiche Zuschauer in die Filmstadt.
Begeistert beklatschten das Publikum und die gut aufgelegten Festivalpaten Meret Becker und Richy Müller die „Mutter Courage des jüdischen Films“, wie Moderator Knut Elstermann die Festivalleiterin Nicola Galliner ankündigte. Unter einem ebenbürtigen Applaus wurde Max Raabe mit seinem Palastorchester begrüßt, bevor der Eröffnungsfilm „Max Raabe in Israel“ als Weltpremiere das Festival eröffnete. Der Dokumentarfilm von Brigitte Bertele, Julia Willmann, Sabine Scharnagl und Dr. Bettina Hausler begleitet das Ensemble auf seiner äußerst erfolgreichen Tour durch Israel. Doch nicht nur musikalisch fand das Orchester die richtigen Töne. Sondern auch, wenn sie vorurteilsfrei mit wachem Geist und großem Taktgefühl neben der Bühne auf die Menschen zugingen und ihnen zuhörten. Das Ergebnis sind bewegende und rührende Momente zum Verhältnis zwischen Juden und Deutschen unserer Generation. Bräuchte es ein neues Genre für so ein Unterfangen, „Max Raabe in Israel“ wäre eine politische Musik-Dokumentation. Das ist auch für die ARD Anlass genug, den Film am 18. Juli zu senden.
Ein Drittel der knapp 30 Filme in diesem Jahr waren deutsche Produktionen und Ko-Produktionen, zwölf an der Zahl. Unter ihnen waren zwei bemerkenswerte Filme, die generationsübergreifende Geschichten erzählen: „Die Wohnung„ von Arno Goldfinger und „Life in Stills“ von Tamar Tal. In beiden Dokumentationen spielt jeweils eine Großmutter von knapp 100 Jahren eine wichtige Rolle. Mit ihnen im Gepäck sind scheinbar unüberbrückbare familiäre Konflikte und lokale Bezüge zwischen Berlin und Tel Aviv, Deutschland und Israel. In „Die Wohnung“ agiert der berühmte israelische Regisseur Arno Goldfinger als geheimnisenthüllender Protagonist. Er vermittelt durch das Erforschen seiner eigenen Familiengeschichte nicht nur historisches Wissen, sondern findet Erklärungsansätze für menschliche Verhaltensweisen und ihre Verdrängungsmechanismen.
Der Dokumentarfilm“Life in Stills“ der jungen und bereits als Nachwuchsfilmemacherin ausgezeichneten Tamar Tal ließ keinen Platz leer bleiben: „Ich kann Ihnen leider keine Sitzplätze mehr anbieten, nur noch auf den Stufen ermäßigt“, klang es aus dem Kassenhäuschen im Arsenal eine viertel Stunde vor Vorstellungsbeginn. Das Kino ist trotz WM ausverkauft. Zu recht. Denn dieser berührende Dokumentarfilm bewegt sich gekonnt zwischen gestern und heute. Er erzählt die Geschichte der 96-jährigen Ladeninhaberin Miriam Weissenstein. Ihr gehörte eines der ältesten Fotoateliers in Tel Aviv: „The Photohouse“. 1940 hatte sie zusammen mit ihrem Mann, dem Fotografen Rudi Weissenstein, das Ladengeschäft gegründet. In ihm wurden über Jahrzehnte hinweg die Fotos ihres Mannes und andere Seltenheiten archiviert, die in Katalogen und Ausstellungen bewundert werden konnten oder zum Verkauf standen. Heute gleicht „The Photohouse“ einer museumsähnlichen Institution, die über eine Million Fotos aufbewahrt. 2010 sollte das Haus abgerissen werden. Ihr Enkel Ben aber hilft Miriam Weissenstein, gegen die Abrisspläne der Städtebau vorzugehen und mit dem Geschäft das Lebenswerk seiner Großmutter und damit ein Stück Israel-Geschichte, speziell auch die Tel Avivs, zu retten.
Die enge Beziehung zwischen Ben und seiner Großmutter entwickelt eine bestechende Nähe zum Zuschauer. Der Umgang der beiden ist äußerst direkt und herzlich. Dabei teilen sie ein schweres Familienschicksal. Ben ist Waise. Seine Mutter, die Tochter von Miriam, wurde nach 30 Ehejahren von ihrem Mann, Bens Vater, ermordet. Danach brachte er sich selbst um. Den Verlust ihrer Tochter konnte Miriam ihr Leben lang nicht verschmerzen, ein Verständnis für die Tatgründe des Schwiegersohns unmöglich entwickeln. Ben sieht seinen Vater hingegen nicht nur als Mörder. Sehr behutsam versucht er, mit seiner Großmutter darüber zu sprechen. Auch er hing sehr an seiner Mutter – wie auch an seiner Großmutter. Hingebungsvoll kümmert er sich um sie, fordert sie aber auch, wenn er ihr bis zuletzt eigene Entscheidungen abverlangt. Miriam bleibt so bis an ihr Lebensende selbst aktiv. Beeindruckend, dass eine Frau von 98 Jahren noch Tag für Tag ihrer Arbeit nachgeht.
„Life ins Stills“ liefert ein wertvolles Stück Fotografie- und internationale Zeitgeschichte. Sein großes Thema ist das Ja zum Leben. Die enorme Kraft, die Miriam so alt werden ließ, muss daraus entstanden sein, dass sie an ihrem persönlichen Schmerz nicht zerbrochen ist und „The Photohouse“ zu ihrem Lebensinhalt hat werden lassen. Ihr trockener Humor ist unverwechselbar und erfrischend. Sie ist schlagfertig und ehrlich launisch. Und so gelingt es ihr auch in einer Szenen des Films, die (deutschen) Gäste in einer Frankfurter Vernissage, die der Grund für ihre letzte Reise ist, für sich und „The Photohouse“ zu vereinnahmen. Umso schöner, dass der Film auf dem diesjährigen Jüdischen Filmfestival den Publikumspreis erhielt.