Rückblick auf das größte Animationsfilmfestival der Welt

Annecy is not the movies, it’s Annecy


Der Gewinner des Annecy Crystal Awards, "Crulic – The Path to Beyond", setzt sich mit dem Hungerstreik eines fälschlich in Polen inhaftierten, rumänischen Mannes auseinander

Der Gewinner des Annecy Crystal Awards, "Crulic – The Path to Beyond", setzt sich mit dem Hungerstreik eines fälschlich in Polen inhaftierten, rumänischen Mannes auseinander

Die Sekunden stiller Dunkelheit, die dem unmittelbaren Kinoerlebnis vorausgehen, empfinden viele Besucher als meditatives Moment. Sie geben einem die Möglichkeit, den Kopf zurückzulehnen, die Erwartungen zu justieren, sich auf die persönliche Begegnung mit dem kommenden Film einzulassen. Doch nicht in Annecy: mit dem erlöschenden Licht füllen plötzlich Tiergeräusche den Raum – ein Hahn kräht, eine Katze miaut, ein Pferd wiehert. Schon bevor der erste Film begonnen hat, wird einem jeden im Kinosaal klar: Ich bin hier nicht allein, wir schauen hier alle gemeinsam einen Film.

Die Beteiligung der Zuschauer am Programm des 1960 gegründeten, weltweit größten Animationsfilmfestivals, das in diesem Jahr vom 4. bis 9. Juni in Annecy stattfand, hat Tradition: Da gibt es Papierflieger, die durch die Kinosäle segeln (wer den Vorhang trifft, erhält tosenden Applaus) und diverse Zwischenrufe. Besonders intensiv kocht die Stimmung beim Annecy-Trailer hoch, der vor jedem Screening-Event gezeigt wird: Im diesjährigen Annecy-Trailer jagte ein Neandertaler ein Huhn durch eine Landschaft von Annecy-Sponsoren – das Erscheinen des Annecy-Hasen (der jährlich in den Trailern „versteckt“ wird) wurde von gellenden „Le Lapin“-Schreien (fr.: der Hase) aus dem Publikum begleitet.

Dieser Bruch mit dem gewöhnlichen oder auch gewohnten Kino zieht ein junges, alternatives Publikum an, aber auch ältere Kinogänger sind darunter, fleißig Papierflieger faltend. Ähnlich vielseitig war dann auch das Programm zusammengestellt, mit 244 Beiträgen aus 80 Ländern, darunter Kurz – und Langfilme, Studenten-Abschlussprojekte sowie Filme zum Schwerpunktland Irland, die sich vorrangig mit der irischen Geschichte auseinandersetzten. Dabei reichten die Animationstechniken von Knet – und Puppenanimation, über klassisches 2D bis hin zu digitalem 3D.

Wer immer noch dachte, dass Animationsfilme – oder altdeutsch: Trickfilme – ausschließlich eine cineastische Spielwiese für die infantilen oder lustigen Dinge des Lebens darstellen, wurde schnell eines Besseren belehrt: Die Zusammensetzung des diesjährigen Programms ähnelte thematisch durchaus Festivalprogrammen der vermeintlich “seriösen” Festivals, seien es die Berlinale oder Cannes. So beschäftigten sich die drei Hauptgewinner in der Kategorie „Langfilm“ mit sozialkritischen Themen. Der Gewinner des Crystal Awards, der polnisch-rumänische Dokumentarfilm „Crulic – The Path to Beyond“ (Anca Damian, 2011) setzte sich mit dem Hungerstreik eines fälschlich in Polen inhaftierten, rumänischen Mannes auseinander, der spanische Film „Arrugas“ („Wrinkles“, Ignacio Ferreras, 2011) erzählte die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft in einem Pflegeheim und der mit dem Publikumspreis bedachte „Le couleur du peau: miel“ („Approved for Adoption„, Laurent Boileau, Henin Jung 2012) begleitete den koreanisch-belgischen Regisseur und Animator Henin Jung bei seiner autobiografischen Identitätssuche.

Approved for Adoption“ berichtet, wie Jung 1971 von seinen belgischen Eltern adoptiert wurde und findet dabei eine eindrückliche, stimmige Sprache, vor allem durch das Mittel der Collage aus Animationssequenzen, Archivbildern und Aufnahmen des heute erwachsenen Regisseurs: Jungs, Unsicherheiten und Zweifel könnten nicht besser dargestellt werden als durch den Bruch zwischen Foto und Film. Ganz im Stil der autobiografischen, fragmentarischen Story, wie sie zurzeit vor allem in Amerika Konjunktur haben – so zum Beispiel in den Graphic Novels der Autorin Alison Bechdel – erzählt „Approved for Adoption“ eine anrührende Geschichte, die das Thema der Selbstfindung auf eine neue und komplexe Art und Weise verhandelt.

Nicht alle Filme des Wettbewerbs fanden adäquate Wege mit problematischen Inhalten umzugehen. Hier war vor allem der südkoreanische Film „Eun-sil-yee“ („The Dearest„, Kim Sun-Ah, Park Se-Hee, 2011) auffällig, der vor Klischees und Übertreibungen geradezu strotzte: Kindesmissbrauch, Missbrauch geistig behinderter Menschen, Mord, häusliche Gewalt – der Ekel, der hier absichtlich evoziert wurde, stand in keinerlei Verhältnis zum eigentlichen Plot oder zur Aussage des Films.

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