Interview mit Provinziale-Leiter Kenneth Anders

Jeder Mensch hat eine provinzielle Seite


Wie entscheiden Sie über die Auswahl?
In langen, manchmal mühsamen, manchmal erhellenden Diskussionen. Wir machen es uns nicht leicht, über die grundsätzlich infrage kommenden Filme sind wir uns zwar schnell einig, aber das macht noch kein Wettbewerbsprogramm. Zum Glück schärft man seine eigenen Qualitätsvorstellungen durch diese Debatten, sodass immer einen Gewinn dabei ist, auch wenn es mal eine halbe Nacht dauert.

Dieses Jahr beschäftigen sich gleich zwei Produktionen, eine aus Österreich, die andere aus Deutschland, mit US-amerikanischen Wüstengebieten. Wie erklären Sie sich diese Faszination?
Was passiert, wenn der zivilisatorische Zugriff, für den zweihundert Jahre lang die Nationalstaaten gesorgt haben, nachlässt? Brechen die zurückgelassenen Gemeinschaften zusammen oder bauen sie neue Strukturen auf, obwohl sie völlig marginalisiert sind? Beide Filme gehen dieser Frage nach. Was sie dabei entdecken, ist unglaublich. Mir haben sich beide Filme tief eingebrannt. Ich bin sicher, es wird zukünftig weitere Filme zu solchen Phänomenen geben, denn die dahinter liegenden Prozesse werden auch an anderen Orten der Welt stattfinden.

Unterscheiden sich Dokumentarfilme mit provinziellem Standort von Produktionen, sagen wir mal, mit Fokus auf Moskau? Und wenn ja, wie?
Die Frage ist, was ein Standort ist. Am Ende entscheidet immer der Blick des Regisseurs darüber, ob er einen provinziellen Gegenstand vor sich hat. Denn jeder Mensch hat eine provinzielle Seite, jede Beziehung hat eine Wahrheit, die aus der Kenntnis und der Vertrautheit rührt, aus der Anerkennung, dass wir ein ganz normales Leben haben und versuchen, das Beste daraus zu machen. Insofern sind auch in Moskau provinzielle Geschichten möglich. Aber natürlich sind wir vor allem an bestimmten Raumbezügen interessiert.

Sind auch andere Programmpunkte, wie die Wettbewerbe um Kurzspielfilm und Animation oder der Nachwuchsfilmwettbewerb unter der Berücksichtigung des Themas Provinz entstanden oder hat das überhaupt keine Rolle gespielt?
Doch doch, das hat eine große Rolle gespielt, nur ließ sich die thematische Zuordnung des Provinzbegriffs hier nicht so rigide handhaben. Man kann allerdings über die Jahre sehen, dass die Kurzspielfilm- und Animationsfilmauswahl immer stärker in Beziehung zu den Dokumentationen tritt, Prägnanz gewinnt und sich so ein interessantes politisches und ästhetisches Programm entwickelt. Und beim Nachwuchs wollen wir natürlich nicht nur erreichen, dass die Leute Filme machen, sondern auch, dass sie beginnen, sich mit ihrer Umgebung auseinanderzusetzen.

Und abschließend: Warum sollten wir Berliner alle zwischen 6. und 13. Oktober nach Eberswalde fahren? Haben Sie eine Programmempfehlung?
Das klingt jetzt doof, aber ich würde wirklich keinen Abend dem anderen vorziehen. Die Berliner sollen nach Eberswalde fahren, weil es ein angenehmes kluges Festival ist, an dem jeder teilhaben kann, der es möchte. Am besten ist sicher beraten, wer sich mehrere Abende Zeit nimmt. Zumal wir an jedem Tag aus allen Sparten Filme zeigen und zudem einen exzellenten Festivalclub mit Kleinkunst und Musik haben. Man kann sich hier wirklich gut aufhalten.

Die Fragen stellte Carolin Weidner

Filmfestival Eberswalde 6. bis 13. Oktober , Paul Wunderlich Haus (Am Markt 1, Eberswalde), Programm unter www.filmfest-eberswalde.de

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