In-Edit 2012 im Rückblick

Die Grenzen der Vielfalt


Dass ein Film anlässlich eines 10-Jahres-Jubiläums ganz anders aussehen und wesentlich unterhaltsamer sein kann, bewies hingegen der Beitrag „10 Jahre Egotronic“ von Aron Krause. Man mag sich kaum ausmalen, wie viele Bierflaschen Torsun Burkhardt als Begründer der Elektro-Punkband in seinem Leben mit den Vorderzähnen aufgemacht hat, aber neben diesen etwas unappetitlichen Nahaufnahmen begeisterte der Film vor allem durch Selbstironie, Authentizität und einen Regisseur, der auf sämtliche Winkel- und Perspektivkonventionen bei Interviews erfrischend zu pfeifen schien. Nicht zu vergessen die knuffigen Gänse, die bei Audiolith-Chef Lars Lewerenz durch den Vorgarten und in diesem Film permanent durchs Bild watschelten. Überhaupt waren die Filme, an die man gar keine großen Erwartungen hatte, für die besten Überraschungen gut. Hierzu zählt genauso der Beitrag „Backyard“ (Árni Sveinsson), der ein Spontankonzert auf einem Hinterhof in Reykjavik dokumentiert und eine ausgelassene Atmosphäre zu transportieren wusste, in der schnulzige Indiebands ins Mikro seufzen oder Metalkombos überengagiert auf ihren Gitarren rumschrammeln. Völlig egal war es hier, dass es zwischendurch wie aus Eimern schiffte und die Zuhörerschaft vorrangig aus Senioren oder Öko-Vatis mit Kinderwagen bestand. Am Ende tanzten alle glücklich mit heruntergelassenen Hosen  zu „Underwear“ von FM Belfast – ein Track, der es trotz Islands Abgeschiedenheit sogar bis in unsere Breitengrade geschafft hat.

Einen weiteren Blick auf die europäische Musiklandschaft erlaubte „The Libertines – There Are No Innocent Bystanders“ (Roger Sargent), wenngleich diese sich 2004 aufgelöste Indieband natürlich wesentlich bekannter ist und der Film eigentlich eher für einen Titel wie „Pete Doherty und Carl Barât – Eine tragische Liebesgeschichte“ prädestiniert schien. Dabei hatte doch alles so kuschelig angefangen, aber als Pete immer mehr dem Drogenrausch verfiel, ging Carl auf Distanz und auch ein Reunion-Konzert im Jahr 2010 konnte diesen lange zurückliegenden Vertrauensbruch nicht mehr kitten. Von den anderen Bandmitgliedern kriegt man in diesem Film nicht viel mit, doch umso offensichtlicher ist, dass Barât sich mit seiner Drogenabstinenz einen optisch und gesundheitlich großen Gefallen getan hat. Doherty ist hingegen, man muss es einfach so sagen, heute ein hässlicher Grottenolm und die damals homoerotischen Bilder der beiden Indie-Veteranen, deren Münder sich dichtgedrängt an ein Mikro schmiegten, verbleiben nun als Reminiszenz an bessere Zeiten.

Jaja, Rock’n’Roll ist schon ein hartes Brot und kann einen zuweilen an die Grenzen der eigenen Flexibilität führen, wenn das von den Eltern propagierte Weltbild mit den Erfahrungen als Gott mit Gitarre nicht so recht zusammenpassen will. Ein derartiges Spannungsfeld zeigte die Doku „Talihina Sky“ (Stephen C. Mitchell) über die Band Kings of Leon, die hierzulande bereits als kommerziell verschrien wurden und für die schmerzhaften Verstopfungsgesänge von Frontmann Caleb Followill bekannt sind. Bestehend aus drei Brüdern, die alle Abkömmlinge eines Wanderpredigers sind, sowie einem weiteren Cousin, entstammen die Kings of Leon einer Südstaaten-Familie, die ständig ihrem religiösen Fanatismus und überzogenen Patriotismus frönt. Dass man hier die Republikaner wählt, ist klar. Auf Tour mit der Band eröffnet sich ein völlig gegenläufiges, aber dennoch klassisches Bild von gammeligen Hotelzimmern, Sex mit Groupies, Drogenkonsum auf Flugzeugtoiletten und im Prinzip allem, was jeden frommen Kirchengänger auf Nimmerwiedersehen ins Fegefeuer schicken müsste. Aber vielleicht sind Religion und Rock’n’Roll gar nicht so weit voneinander entfernt, wie eine Parallelmontage von ausrastenden Musikern auf der Bühne und in Zungen sprechenden Christen in Trance nahelegen. Gläubig und ihrer Familie verbunden seien sie trotzdem, sagen Kings of Leon. Am Ende wird dann doch lieber Obama gewählt.

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