DOK Leipzig zeigt Dokumentarfilme aus aller Welt

Neutralität ist eine süße Illusion



Deep Love“ von Jan P. Matuszynski, der seine Weltpremiere im Wettbewerb für junges Kino feiert, schaut sich an wie ein Melodram. Die emotionsgeladene Geschichte über einen passionierten Tiefseetaucher, der nach einem Unfall gelähmt ist und unbedingt wieder tauchen möchte, wird von eindrücklichen Unterwasseraufnahmen und Musik aus dem Off untermalt. Ähnlich der roadmovieartige deutsche Wettbewerbsbeitrag „The Special Need“ über einen geistig behinderten jungen Mann, der mit Freunden auf der Suche nach Liebe und sexuellen Abenteuern durch Europa tourt. „The Last Black Sea Pirates“ im Wettbewerb für junges Kino mutet wie eine moderne Piratengeschichte an. Die Existenz einer archaischen, auf einer kleinen Insel in Bulgarien lebenden Männergemeinschaft wird durch den Bau einer Ferienanlage bedroht. Angeführt wird der ulkige Haufen von, ja wirklich, „Captain Jack“. Svetoslav Stoyanov lässt die Männer vor der Kamera tanzen und drapiert sie um einen Weihnachtsbaum am Strand. Das Bildmaterial, welches hier verwendet wird, ist zwar meist authentisch, doch die Komposition der Bilder und Stoyanovs filmische Absicht sind stets präsent.

Spätestens beim Wettbewerbsbeitrag „Just The Right Amount Of Violence“ von Jon Bang Carlsen gelangt man endgültig in der Grauzone zwischen Dokumentar- und Spielfilm an. Der Film enthält fiktive Szenen, die zeigen, wie schwer erziehbare Jugendliche in L.A. nachts aus ihren Betten geholt und gegen ihren Willen in eine Art Erziehungscamp in Utah gebracht werden. Auf einer weiteren Ebene reflektiert er die problematische Beziehung zu seinem Vater. Freilich stellt man sich bei Carlsens Film sofort die Frage nach Authentizität. Wirft man einen Blick auf seine Filmografie, erkennt man, dass es ihm vor allem darum geht, die Zuverlässigkeit von Bildern genauso wie Genreklassifizierungen zu hinterfragen.

Zu beobachten, ohne zu beeinflussen bleibt aber, auch ohne nachträgliche Arrangements, ein unüberwindbarer Widerspruch. Das Bild vom Dokumentarfilmer als vollkommen neutraler Beobachter ist eine süße Illusion. Menschen verhalten sich einfach anders, wenn eine Kamera auf sie gerichtet ist. Das sieht auch Marc Bauder ähnlich, der mit Voss im Vorfeld der Dreharbeiten klare Absprachen getroffen hat – auch aufgrund des heiklen Themas. Um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, die Echtheit des Gesehenen selbst zu beurteilen, macht Bauder den mühsamen Prozess auf der Leinwand transparent und zeigt auch Auseinandersetzungen zwischen ihm und seinem Protagonisten. Voss weiß genau, was er sagen darf. Manchmal, wenn es ihm zu weit geht, bricht er von selber ab: „Lass gut sein. Ich kann da nicht mehr zu sagen. Fertig!“

56. DOK Leipzig von 28. Oktober bis 3. November 2013 in verschiedenen Leipziger Kinos.
Programm unter www.dok-leipzig.de.

Eileen Reukauf
mit freundlicher Genehmigung des Leipziger Stadtmagazins Kreuzer.

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