BFF On The Road: Tagebuch zur 71. La Biennale Di Venezia

Der Venedig-Blog 2014


Tag 11: Fazit

Was aus der dürftigen Auswahl im Wettbewerb würde am Ende wohl prämiert werden? Einig waren sich fast alle, dass Oppenheimers Dokumentation „The Look of Silence“ und Roy Anderssons bildgewaltiges Meisterwerk „A Pidgeon Sat On A Branch Reflecting On Existence“ die wichtigsten Preise mit nach Hause nehmen würden.

So kam es dann auch. Den Preis für den besten Film im Wettbewerb der 71. Mostra del Cinema nahm tatsächlich der Schwede Andersson mit nach Hause. Vier Jahre Arbeit am Film, für deren einzelne Szenen der Regisseur teils einen bis zwei Monate Drehzeit brauchte, haben sich gelohnt. Das surreale Leinwandgemälde gewann den Goldenen Löwen und kann nun hoffen, dass sich zumindest einige Kinosäle in Europa finden, die den Gewinnerfilm zeigen. Der raffiniert inszenierten Bilder sind ein wahrer Augenschmaus.

Den Silbernen Löwen für die beste Regie erhält der Russe Andrej Končalovskij für seinen stillen Film „The Postman’s White Nights„. Eine im dokumentarischen Stil gedrehte Geschichte über die Einsamkeit und die Einöden irgendwo in der Tiefebene Russlands. Hier leben die, die das System vergessen zu haben scheint. Wer kann, zieht in die Stadt. Dem Rest reicht der Fernseher die Hand in eine andere Welt. Ein Film, der auch das Aussterben russischer Dörfer dokumentiert und den Zuschauer mit seinem lakonischen Humor auf die Insel zieht, wo er genau die Figuren antreffen wird, die ihn im Film schon begegnet sind. Stilistisch simple, klar und sehr zurückhaltend erzählt.

„Anonymous, thank you!“

Der wohl bewegendste Moment auf der Preisverleihung: Die Vergabe des Großen Preis der Jury (Gran Premio della Giuria), mit dem ein Film geehrt wird, der ebenfalls in den Kategorien Bester Film und Beste Regie hätte ausgezeichnet werden sollen. Der Preis ging an „The Look of Silence„, Joshua Oppenheimers nach „The Act Of Killing“ (hier unsere Berlinale-Kritik „Massenmord als Theater AG) zweite filmische Aufarbeitung der Massenmorde in Indonesien Mitte der 60er Jahre.
http://youtu.be/jqLLhoIrp8E
Besonders Jurymitglied Tim Roth war von dem wie er sagt „Meisterwerk“ tief bewegt und ergreift noch einmal das Wort, nachdem der Preis übergeben ist. „Dieser Film hat eine Erhabenheit, die man nicht in Worte fassen kann“, sagt er und bedankt sich am Ende mit: „Anonymous, thank you!“ bei den zahllosen im Abspann als ‚Anonymous‘ gekennzeichneten Mitwirkenden, die aus Angst vor einem erneuten willkürlichen Akt der Gewalt sich versteckt halten, und in keine direkte Konfrontation mit den Tätern von einst gehen.

Zu den Überraschungen des Abends zählten sicher die Vergabe der Schauspielerpreise „Coppa Volpi“, „Bestes Drehbuch“ und der „Spezialpreis der Jury“. Ungewöhnlich, dass zwei Schauspieler des gleichen Filmes als beste Interpreten des Festivals ausgezeichnet wurden. Adam Driver und Alba Rohrwacher, die beiden Hauptdarsteller des Films „Hungry Hearts“ von Saverio Costanzo, waren mit Sicherheit nicht das herausragendste Schauspielerensemble. Beide spielen ihre Rollen zwar konsequent, aber nicht überragend anschaulich oder fein. In Anbetracht allerdings der vielen schlechten schauspielerischen Darstellungen in so vielen Filmen und der wenigen weiblichen Darstellerinnen beispielsweise im Programm, verwunderte es wiederum nicht, dass ausgerechnet diese beiden ausgezeichnet wurden. Die italienische Presse scheint ihre eigene Fehde mit dem jungen Regisseur Costanzo zu führen, dem sie Prätentiösität und übertriebene Inszenierung vorwirft. Doch „Hungry Hearts„, ein Film über die Ideologie der gesunden Ernährung, die schlussendlich krank macht, war weder das eine noch das andere. Er bestach vielmehr durch einen originellen Plot, der eine interessante Geschichte zu erzählen hatte. Der Film ist kein Meisterwerk, aber durchaus sehenswert.

Weiterlesen: Aus der Balance“ überschreibt Susan Vahabzadeh ihre Einschätzung zum Filmfestival Venedig bei Süddeutsche.de.

Die iranische Regisseurin und Drehbuchautorin Rakhshan Banietemad und ihr Kollege Farid Mostafavi erhielten den Drehbuchpreis für den ebenfalls dokumentarisch inszenierten Film „Ghesse-ha“ („Tales„). Damit waren sicher viele nicht einverstanden, hatten sie doch auf Inárritus „Birdman“ gesetzt. Der iranische Wettbewerbsbeitrag ist sicher wichtig, nicht zuletzt, da er wieder einmal an all die Regisseure und Filmemacher in dem Land erinnert, die unter einem Berufsverbot leider und in Gefängnissen stecken. Auch dieser Film ist heimlich und ohne Drehgenehmigung entstanden, bis der Film der iranischen Filmkommission vorgelegt wurde, die den Film durch die Zensur bringen müsste.
Es gibt sehr wohl fantastische Szenen, die, anders als es für gewöhnlich die Amerikaner oder bei diesem Festival auch Fatih Akin machen, die ihre Energie aus der indirekten Erzählung und versteckten Inszenierungen freisetzen. Szenen, die nicht alles preisgeben, was der Zuschauer vielleicht sehen möchte. Alles in allem aber eher ein gewöhnlicher Film, dessen Themen alle mindestens schon ein, zwei Mal besprochen wurden.
http://youtu.be/JuiwCWLIpiE
Last but not least nun die größte Überraschung mit „Sivas„, dem Debütfilm des Kreuzbergers Kaan Müjdeci. Er selbst hatte mit der Ehrung wohl am allerwenigsten gerechnet. Von der Presse, besonders der italienischen, nicht gerade geliebt, überzeugte der Film offenbar doch die Jury und gewann den „Spezialpreis der Jury“, die als eine Art lobende Erwähnung verstanden werden kann.
Das Potenzial der Films wurde von vielen verkannt, vermutlich vor allem wegen der – wie bereits an anderer Stelle erwähnten – absurden und überzogenen italienischen Untertitel. Doch zu Unrecht, „Sivas“ hat seine ganz eigene Poesie und schaut in eine Welt, die kaum Gutes hervorbringt, wo nur der Kampfgedanke als bestes Rüstzeug zum Überleben zählt.

Weiterlesen: Unsere ausführliche Kritik „Wo die wilden Kerle wohnen“ zu „Sivas von Kaan Müjdeci.

Es waren viele politische Themen, die auf dem Festival verhandelt werden sollten. Für diese Form und Farben der Geschichten war Venedig noch nie berühmt. Das war bislang eher Berliner Terrain. Auch in den Seitensektionen waren unzählige politische Filme zu sehen. Ob in Venedig ein anderer Wind Einzug hält, bleibt abzuwarten. Herausragend war es in diesem Jahr nicht.

SuT

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