BFF On The Road: Tagebuch zur 71. La Biennale Di Venezia

Der Venedig-Blog 2014


Tag 4: Ein Hauch von Haneke


Nach vier Tagen und elf zumeist eher unterdurchschnittlichen Wettbewerbsfilmen ist der anfängliche Enthusiasmus erst einmal verflogen. Das Festival könnte allmählich gern an Fahrt aufnehmen. Anders als der Festivalprolog mit „Birdman“ zu versprechen schien, dominieren bislang konventionelle Filme, deren Geschichten wenig Inspiration atmen. Querschläger sind bisher nicht auszumachen, weder nach unten noch nach oben. Zu den Enttäuschungen zählte heute auch David Gordon Greens „Manglehorn„. Die Story um einen alternden und an gebrochenem Herzen leidenden Misanthropen (Al Pacino), der eine ganze Weile braucht, um sich aus seinem Schattenschloss zu befreien, kratzt lediglich an der Oberfläche von Gefühlen und Beziehungen und verlässt sich lieber auf skurrile Episoden und bedeutungsleere Filmzitate. Auch Frankreich und Italien setzen auf Altbewährtes: sentimentale Liebesgeschichten, ideenlose Literaturverfilmungen oder altbewährte Mafiageschichten. Momentan sind alle anderen Sektionen spannender als der Wettbewerb selbst.

Quentin Dupieux (aka Mr. Oizo) überzeugt mit "Reality" im Orizzonti Programm von Venedig. © la Biennale di Venezia

Quentin Dupieux (aka Mr. Oizo) überzeugt mit „Reality“ im Orizzonti Programm von Venedig. © la Biennale di Venezia

Kreativling Quentin Dupieux („Rubber„, „Wrong„) zeigt seinen neuen Streifen „Reality„, eine Gruppentherapie fürs Publikum beim Psychoanalytiker. Wildschweine sind Allesfresser. Da kann es auch schon mal vorkommen, dass so ein Wildschwein eine Videokassette verschluckt, die geradewegs in den Kopf eines Filmproduzenten führt. Ein Film im Film, mit jeder Menge Ichs, Über-Ichs und Es’. Urkomisch und eines der Highlights bisher im Orizzonti Programm.

Ähnlich psychoanalytisch mit einem Hauch von Haneke startete heute auch die Ulrich Seidl Produktion „Ich Seh Ich Seh“ („Goodnight Mommy„) in der gleichen Reihe. Seidl selbst ist im Wettbewerb mit seiner Dokumentation „Im Keller“ vertreten. Bislang ist die österreichische Produktion „Ich Seh Ich Seh“ wohl der schockierendste Film im Programm. Selbst Kim Ki-duk könnte sich noch was abschauen. Zahlreich verließ das Publikum denn auch den Saal. Veronika Franz – langjährige Co-Autorin und künstlerische Mitarbeiterin Ulrich Seidls – und Severin Fiala führten bereits 2012 erstmals zusammen Regie für die Dokumentation „Kern„.

Weiterlesen: „Es geht immer um Machtverhältnisse“ – Ulrich Seidl im Interview mit Berliner Filmfestivals.

In ihrer zweiten gemeinsamen Arbeit erzählen sie die Geschichte von zwei Jungen (ein Zwillingspaar), die nach einer Schönheits-OP ihrer Mutter nicht mehr glauben wollen, dass die Frau, die dort mit einbandagiertem Gesicht in der Wohnung sitzt, wirklich ihre echt Mutter ist. So interessant die Geschichte klingt, der Teufel sitzt im Detail. Und was anfangs nach psychologisch fein gesponnenem Faden um die Fragen nach Maske und Identität aussieht, verliert sich leider bald in der Farce des Horrorgenres. Zu schön begann der Film mit anfänglich noch wunderbaren Märchenmotiven und einer fantastischen Kameraarbeit von Martin Gchlacht („The Wall„) und setzte große Erwartungen. Was mitunter nach einem Hauch von „Funny Games“ roch, verläuft sich schlussendlich aber in einem bewusst angelegten und banalen Verwirrspiel, dessen einziges Ziel es ist, den Zuschauer immer wieder auf die falsche Fährte zu locken. Das versetzt dem Film und der ambitionierten Geschichte schließlich den Todesstoß. Übler kann man seinen Plot nicht verraten. Auch die überinszenierte sadistische Gewalt im Film – mit zugeklebten Augen und Mündern, um nur ein Beispiel zu nennen – die mit einer auf die zerstörerische Natur der menschlichen Psyche noch hätte gerechtfertigt werden können, wird zum bloßen Schaueffekt und in der Pressekonferenz auch noch unglaublich dumm kommentiert: „Früher wurden Kinder sehr autoritär erzogen. Wenn die Eltern etwas sagten, folgten die Kinder. Heute drehen sich die Machtverhältnisse immer mehr um. Die Kinder sind meist mächtiger.“ Ganz eindeutig scheitert dieser Film an der Einfältigkeit seiner Filmemacher.

SuT

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