Eindrücke vom 67. Festival del Film Locarno

Filmkunst bei Gelato und Aperol Spritz



Für nostalgische Momente sorgte die Retrospektive der Produktionsfirma Titanus, dem italienischen Pendant zu MGM und 20th Century Fox. Gezeigt wurden Filmperlen aus den Jahren 1945 bis 1965, die als die fruchtbarsten des italienischen Kinos gelten. Neben Werken von Edgar G. Ulmer („Antinea, l’amante della città sepolta„, 1961), Visconti („Giorni di Gloria„, 1945) und Fellini („Il Bidone„, 1955) war auch der durchgestylte und kluge „Le Amiche“ (1955) von Michelangelo Antonioni zu sehen, der uns ins Turin der 50er Jahre entführt und zu einer Reflexion über Sinn und Unsinn des bürgerlichen Lebens einlädt. Zudem konnten auch Filme von Agnès Varda entdeckt und wiederentdeckt werden, allen voran der legere und melancholisch anmutende Nouvelle Vague Klassiker „Cléo de 5 à 7„, der die bildschöne und (eingebildete) krebskranke Corinne Marchand durch das Paris der 60er Jahre begleitet. Varda, die am Samstag den „Pardo d’onore“ entgegennahm, sorgte mit viel Wortwitz und einer kleinen Tanzeinlage im Leopardenkostüm für herzhafte Lacher auf der Piazza und bewies, dass sie auch mit ihren 86 Jahren nichts von ihrer Vitalität verloren hat.

Zu den Autorenfilmen zählen auch die in der Sektion „Histoire(s) du cinéma“ gezeigten Werke vom spanischen Regisseur Victor Erice. Sein 2002 fertiggestellter Kurzfilm „Alumbramiento“ über eine traditionelle spanische Bauernfamilie, der essayistische „La Morte Rouge„, der interessante Einblicke in das Belle Epoque Casino von San Sebastian gewährt – heute durch ein modernes Kongresshaus ersetzt – oder auch „Vidros Partidos„, in dem entlassene Arbeiter einer portugiesischen Textilfabrik aus ihren Leben erzählen, zeugen vom Erices tiefen historischen Bewusstsein.

Der erwartete Roman Polanski sagte kurzfristig seine Anwesenheit am Festival ab. Grund sei der Aufruf einer konservativen Tessiner Partei zum Boykott des umstrittenen Regisseurs. Polanski, der vor einigen Jahren in der Schweiz verhaftet und einige Zeit im Hausarrest in seinem Gstaader Wohnsitz verweilte, wollte wohl keinen weiteren Skandal riskieren. Festivaldirektor Chatrian drückte seine große Enttäuschung gegenüber dieser Absage aus und sah darin die Meinungsfreiheit des Festivals gefährdet. Die heutige Vorführung von „One Hour Photo“ (US, 2002) zu Ehren an den verstorbenen Robin Williams wird wohl auch ein Versuch sein, die schlechten Schlagzeilen wieder vergessen zu machen.

Neben diesen filmfestivalpolitischen Vorfällen bleibt noch offen, welcher Film des Concorso Internationale mit dem Goldenen Leoparden ausgehen wird. Die von Gianfranco Rosi präsidierte Jury mit Thomas Arslan, Alice Braga, Connie Nielsen und dem diesjährigen Berlinale Preisträger Diao Yinan wird erst am Sonntag ihr Urteil verkünden. Persönlich hin und her gerissen zwischen heutigem und früherem Filmschaffen schlägt mein Herz bisher eher zugunsten der alten Filmmeister. Auch der Wettbewerbsfilm „Cure – The Life of Another“ von Andrea Štaka wird wohl nicht an den Ruhm von „Das Fräulein“ anknüpfen können, der 2006 mit dem Pardo d’Oro ausgezeichnet wurde.

Raphaël Rück

Das 67. Festival del Film in Locarno findet von 6. bis 16. August 2014 statt.

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