Interview mit Jean-Pierre und Luc Dardenne zu „Zwei Tage, eine Nacht“

Wir leben in einer Zeit, in der die Leute Angst haben


Die Brüder Dardenne bei den Filmfestspielen von Cannes 2009, Foto: Georges Biard (Wikipedia)

Die Brüder Dardenne bei den Filmfestspielen von Cannes 2009, Foto: Georges Biard (Wikipedia)

Die belgischen Brüder Jean-Pierre Dardenne und Luc Dardenne sind mit ihren Werken Stammgäste bei den großen Filmfesten. Allein in Cannes waren fünf ihrer Werke in Wettbewerben zu bewundern, zuletzt „Zwei Tage, eine Nacht“ („Deux jours, une nuit„), der am Donnerstag in den Kinos startete und eine Premiere im Schaffen der Brüder markiert: Mit Marion Cotillard spielte erstmal (abgesehen von Cécile de France im Golden Globe-Gewinner „Der Junge mit dem Fahrrad“) ein echter Superstar die Hauptrolle in einem ihrer Filme. Im Interview erklären die Brüder das Spezielle ihrer Arbeitsweise und wie Sie sich Ihrem Thema näherten.

Wie nahe ist Ihnen das Milieu, das Sie in „Zwei Tage, eine Nacht“ ausstellen?
Jean-Pierre Dardenne:
Wir kennen das Milieu sehr gut. Das sind Menschen, mit denen wir aufgewachsen sind. Leute, die wir filmen, seit wir 20 Jahre alt sind. Wir haben in unseren dokumentarischen Arbeiten unheimlich viele Portraits über Leute in Seraing, unserer Heimatstadt, gemacht, in der wir immer wieder unsere Filme drehen. Wir begegnen ihnen in kleinen Kulturhäusern oder anderen öffentlichen Orten, in denen wir die Filme aufführen. Dort haben wir zusammen gegessen und Zeit miteinander verbracht. All das führt dazu, dass wir ziemlich genau wissen, über wen wir Filme machen.

Sie bezeichnen die Beteiligten an Ihren Filmen häufig als Ihre „Familie“. Im Interview zum preisgekrönten Vorgängerwerk „Der Junge mit dem Fahrrad“ sagten Sie 2012: „Wir haben kein großes Verlangen mit bekannten Schauspielern zu drehen. Die haben ihre eigene Arbeitsweise, an unsere müssten sie sich erst gewöhnen.“ (Hier das 2012er-Interview) Jetzt spielt Marion Cotillard die Hauptrolle in „Zwei Tage, eine Nacht“. Wie kam es zu dem Sinneswandel?
Jean-Pierre Dardenne:
Die Frage, die sich uns gestellt hat, war: Kann sie Teil unserer Familie werden und diese auch bereichern? Nur wenn beides gegeben ist, können wir einen Film zusammen machen. Sie musste einerseits unsere Arbeitsweise akzeptieren, um in die Familie aufgenommen zu werden und diese Familie andererseits auch bereichern. Sonst hätte das keinen Sinn gemacht.
Luc Dardenne: Hier bestand die Herausforderung für uns, aber gleichermaßen auch für Marion.
Jean-Pierre Dardenne: Das war unser Ziel, um zusammen zu kommen. Um das zu erreichen, hat man Proben. Wir hatten sechs Wochen Zeit dafür, in der auch eine Art Symbiose entstand, weil wir genug Zeit hatten, die eigenen Verteidigungsmechanismen über Bord zu werfen. So kann etwas wie ein frischer Wind wehen.

Es heißt, Cotillard hätte die Rolle angenommen, noch ehe Sie das Drehbuch gelesen hatte. Wie haben Sie die Schauspielerin überzeugt?
Luc Dardenne:
Als wir anfingen, die Rolle Sandra in diesem neuen Drehbuch zu schreiben, sind wir zu ihr gegangen und haben gesagt, dass wir dabei an sie denken. Sie sagte zu, obwohl das Drehbuch noch nicht fertig war.
Jean-Pierre Dardenne: Es war eine Kinoliebe auf den ersten Blick – im kinematographischen Sinne. Das passiert nur, wenn man sich auch begegnet. Natürlich hatten wir sie in Filmen gesehen und gemocht, aber ausschlaggebend war das persönliche Treffen. Da ist etwas zwischen uns entstanden, das uns dazu bewegt hat, zusammen zu arbeiten. Wir hatten ihr ursprünglich ein Drehbuch angeboten, in dem sie eine junge Ärztin spielen sollte, der Film kam aber nicht zustande. Später schlugen wir ihr diese Rolle aus dem neuen Drehbuch vor und sie war sofort bereit, die Rolle zu spielen. Für uns war es ein Abenteuer mit ihr zu drehen. Es gibt viele Schauspieler, die sagen, wir wollen mit den Dardennes arbeiten, wir wissen aber, dass die nicht in unsere Welt hineinpassen. Dass das nicht funktionieren würde, weil die nicht bereit sind, sich komplett aufzugeben. Marion Cotillard ist dazu bereit. Sie ist bereit, sich völlig zu vergessen. Sie ist dann wie eine nackte Suchende. Sie versucht etwas zu finden, indem sie Marion Cotillard vergisst und zu dieser Figur wird. All das, was sie sonst ausmacht, das Licht, die Kostüme und so, benutzt sie, um als Marion Cotillard zu verschwinden.

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