BFF On The Road: Zu Besuch auf der 72. La Biennale Di Venezia

Der Blog zu den 2015er Filmfestspielen von Venedig


Drehbuchautor und Regisseur Emin Alper tritt mit "Abluka" im Wettbewerb an. Foto: La Biennale

Drehbuchautor und Regisseur Emin Alper tritt mit „Abluka“ im Wettbewerb an. Foto: La Biennale

Tag 6 und 7: Jeder kämpft für sich allein

Irgendwo in einer Türkei von gestern, heute oder morgen, an einem nicht näher definierten Ort stehen Mülltonnen in Flammen, füllen sich die außerhalb der Stadt liegenden Gräber mit den Kadavern der zum Abschuss freigegebenen Straßenhunde, überall lauern Militär und Geheimpolizei. Die Angst und das Misstrauen wachsen in einem Land, in dem seit diesem Dienstag die türkische Armee auf PKK Stellungen im Nordirak vordringt.
In seinem Wettbewerbsbeitrag „Abluka“ beschreibt Drehbuchautor und Regisseur Emin Alper („Beyond Hills„) in zum Teil surrealen Filmsequenzen die Paranoia in einer den Krieg witternden Gesellschaft, in der keiner mehr dem anderen trauen kann. Überall regieren Verrat, Zerstörung, Willkür und Bedrohung. Nicht nur auf der Kunstbiennale zeigt sich die Welt mit apokalyptischem Anstrich. Krisen und Notstände dominieren die Sektionen.
Das Weltkino dokumentiert und reflektiert seine Gegenwart und jüngste Vergangenheit. Sucht man nach den Ursachen des Unfriedens findet man schnell die Saat des Bösen in patriarchalen Gesellschaften, wie beispielsweise im argentinischen Wettbewerbsfilm „El Clan“ oder den Orizzonti-Beiträgen „Wednesday, May 9“ und „Mutter Courage„. Väter, Brüder, Cousins oder Verlobte zerstören mit Machtansprüchen und Dominanzgebaren die friedliche Gemeinschaft.

Auf der anderen Seite stehen in fast jedem Film ausschließlich Einzelkämpfer im Fokus. Es sind Charaktere, die sich entweder allein verantworten müssen, wie in „Krigen“ und „Abluka„, oder sich den Umständen nicht beugen wollen und sich ihnen entgegenstellen, wie in „Mutter Courage„, „Un monstruo de mil cabezas“ und dem türkischen Beitrag der Settimana della Critica „Ana Yurdu„. Jeder kämpft für sich allein. Das einzige wahre Team im Programm, das sich zusammen für eine Sache durchboxt, sind die Protagonisten des Tom McCarthy Films „Spotlight„.

Charlie Kaufmans („Beeing John Malkovich„) und Duke Johnsons („Before Orel: Trust„) Animationsfilm „Anomalisa“ – einer sehr naturalistische und zauberhaft detailreiche Stop-Motion-Animation, die den Zuschauer vergessen lässt, dass es sich hier um Animation handelt – treibt es in seiner Darstellung um Einsamkeit schließlich auf die Spitze. Michael gegen den Rest der Welt. Ein Mann, der als Buchautor zu mehr Individualität im Kundenservice aufruft und dafür eine Menge Tipps bereithält, die er auf Gastvorträgen einer grauen aber lernwilligen Masse erklärt, leidet an einer Art Fregoli-Syndrom, einer Schizophrenie, die seine Wahrnehmung beeinträchtigt und alle Personen in seinem Umfeld zu ein und derselben Figur macht. Alle sprechen mit der gleichen männlichen Stimme, egal ob Mann oder Frau. Nur eine Figur, Lisa, sticht aus allen hervor und Michael verliebt sich in die rein äußerlich recht unscheinbare Frau, die eine Narbe am rechten Auge trägt. Die Symbolik ist reich und keiner der Presseleute findet in der Pressekonferenz die Worte, um die Geschichte und den Subtext im Film in einem Satz zusammenzufassen. Kaufman („Sunshine of The Spotless Mind„) selbst wiederum, berühmt für seine komplexen und verspielt absurden Filme, mit philosophischen Versprenklern, lässt sich auch nach mehrfacher Bitte um eine Interpretation der Anspielungen im Film, nicht dazu hinreißen, ein Wort über seine Intentionen oder Visionen der Geschichte zu verlieren. Jeder soll seinen eigenen Film sehen dürfen.
So schaffen es Charlie Kaufman und Duke Johnson am Ende dieses Tages jeden Zuschauer für sich allein zurückzulassen, um ihn die Interpretation und Auseinandersetzung mit „Anomalisa“ im ganz eigenen und individuellen inneren Dialog allein ausfechten zu lassen. Der Film ist Programm.

SuT

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