BFF On The Road: Zu Besuch auf der 72. La Biennale Di Venezia

Der Blog zu den 2015er Filmfestspielen von Venedig


Szene aus der mit Spannung erwarteten Netflix-Produktion"Beasts of No Nation" von Cary Fukunaga. Foto: Netflix

Szene aus der mit Spannung erwarteten Netflix-Produktion“Beasts of No Nation“ von Cary Funkunaga. Foto: Netflix

Tag 1: You gotta fight

Nach den vielversprechenden Eröffnungsfilmen der letzten beiden Jahre mit Cuarons „Gravity“ und Inárritus „Birdman„, beides Oscarpreisträger, fiel der Auftakt in diesem Jahr etwas mager aus. Festivaldirektor Alberto Barbera eröffnet die 72. Filmfestspiele am Lido in Venedig mit Baltasar Kormákurs „Everest“ in 3D.
Ein typischer Hollywood-Popcorn-Blockbuster mit souveränem Cast, darunter Jake Gyllenhaal, Keira Knightley, Robin Wright, Emily Watson und Josh Brolin. Der Film zeichnet die Ereignisse der unter Rob Hall und Scott Fischer geleiteten Everest-Expedition im Jahr 1996 nach, in der ein Teil der Gruppe, darunter auch die Expeditionsleiter selbst, unfreiwillig ein ewiges Bündnis mit dem Gipfel eingehen und von dort nie mehr zurückkehren. Leider schafft es Kormákur („101 Reykjavik, „A little Trip to Heaven„) nicht dem Film, der Story und seinen Figuren Leben zu geben. Souverän spult er die einzelnen Ereignisetappen ab und setzt lieber auf die oberflächliche und manipulative Kraft etlicher Violinencrescendi und dramatischer Bläsersätze, statt den Fokus auf die Facetten und Beweggründe der einzelnen Protagonisten zu richten. Den Zuschauer berühren die nur leicht angerissenen Biografien der Gipfelstürmer kaum. Warum dieser Film das Festival eröffnet, hat wohl mehr mit der internationalen Festival-Konkurrenz zu tun. Guillermo del Toros neuer Film „Crimson Peak„oder Ridley Scotts „The Martian“ konnten jedenfalls nicht als Eröffnungsfilme für Venedig gewonnen werden.

Doch was noch zu Beginn verwundert, da sich viele die Frage stellen, was hat der Film als Festivalopener denn eigentlich über das Thema dramatischer Anstieg am Mount Everest hinaus mitzuteilen, fügt sich im Laufe des Tages zu einem roten Faden. Tag 1 widmet sich ausschließlich Kämpfernaturen.
Auf den außer Konkurrenz laufenden „Everest“ folgt der Eröffnungsfilm der Orizzonti-Reihe „Un Mostruo de mil cabezas„. Regisseur Rodrigo Plá (La Zona) lässt eine Ehefrau und Mutter sinnbildlich in den Ring steigen, um ihren schwer erkrankten Mann vor der korrupten Firmenpolitik ihrer Krankenversicherung zu retten. Ein großartiger Beitrag aus Mexiko, der vor allem durch Plás stilistische Handschrift – eine architektonische und sehr stark auf Räume konzentrierte Filmsprache – funktioniert, mit der er die Dynamik des Dramas bestimmt und die soziale Zugehörigkeit seiner Protagonisten definiert.

Und schließlich sind es am Ende des Tages zwei Netflix-Produktionen, in deren Zentrum ebenfalls echte Unbeugsame stehen und die die Dramen zum Abend noch einmal steigern. Überraschenderweise ist allerdings Cary Funkunagas („Sin Nombre„, „True Detective„) Film über das Leben von Kindersoldaten in Nigeria, „Beasts of No Nation„, sehr viel seichter und weniger nachdrücklich als von vielen erwartet. Auch dieser Beitrag, der wie die beiden vorherigen Filme im Programm auf einer Buchvorlage basiert, schafft es trotz seiner Spielfilmlänge von 136 min nur, die Tragödie und den Wahnsinn hinter der Rekrutierung von Kindersoldaten und deren Missbrauch anzureißen. Zu oft müssen Ausstattung und episodenhafte Szenenbilder ausreichen, um das tiefe menschliche Drama nachzuvollziehen.
https://youtu.be/-6D7_kQ_m58
Sehr viel beeindruckender – zumindest auf den ersten Blick – wiederum der außer Konkurrenz laufende ukrainische Beitrag „Winter on Fire„, in den sich zum späten Abend nur noch wenige Zuschauer verirren. Eine Dokumentation der 93 Tage auf dem Maidan-Platz in Kiew im Winter 2013/2014. Evgeny Afineevsky schafft es den Zuschauer auf den Platz zu holen und an der blutigen Tragödie teilnehmen zu lassen. Einige der Aufnahmen gingen auch durch die deutschen Medien, doch fügen sie sich erst im Film zu einem komplexeren Bild der damaligen Umstände. Einen bitteren Beigeschmack hinterlässt aber die Einseitigkeit und der stark patriotisch gefärbte, heldenhafte Ton des Films sowie die Fragwürdigkeit mancher Aufnahme.
Hin und wieder wirken einige Bilder wie nachträglich inszeniert, vielleicht um Geschichten zu komplettieren oder um nachträglich den Zuschauer zu manipulieren. Zum Beispiel wenn in einer Szene offenbar ein toter Protestant zusammengekauert mit dem Gesicht nach unten hinter einem Baum am Boden liegt und ein vermeintlicher Freund einem Helfer nur kurz mitteilt: „Das ist mein toter Freund.“ Kurz darauf hört man einen erneuten Schuss, der Freund versucht besseren Schutz hinter dem Baum zu finden und die Kamera gibt den Blick frei auf einen ebenfalls am Boden liegenden Mann mit Helm auf dem Kopf, der offenbar von der Kugel getroffen, mit dem Tod ringt. Diese und einige andere Aufnahmen fühlen sich an, als wären sie nachträglich hinzugefügt. Bewiesen ist damit noch lange nicht, dass die Aufnahmen nicht dennoch original sein könnten. Doch zu dieser Frage wird Evgeny Afineevsky erst in der offiziellen Pressekonferenz Stellung nehmen können.

SuT

Wer sich die Biennale nach Hause auf den heimischen Bildschirm holen will, kann in diesem Jahr hier wieder online Filme der Sektionen Orizzonti und Biennale College-Cinema streamen – allerdings ist die komplette Webseite auf Italienisch.

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