Regisseur Christian Petzold im Kino-Interview zu „Transit“

Petzold: "Das Kino ist doch ein Ort, wo man das Sehen wieder lernt"



Entsteht durch Voice-Over nicht eine Hörbuch-Stimmung?
Es dauert 35 Minuten, ehe im Film Voice-Over erscheint. Das ist ein Standard-Einwand. Beim Hörbuch wird von Anfang an gesprochen, es setzt im Moment ein, in dem man das Buch aufschlägt. Die Leute sehen nichts mehr. Das Kino ist doch ein Ort, wo man das Sehen wieder lernt.

Sie transportieren den historischen Stoff wie selbstverständlich in die Jetzt-Zeit…
Das war schwer zu vermitteln, gerade denen, die Geld in einen Film stecken. Das sind teilweise öffentliche, aber auch private Gelder. Die gehen ein Risiko ein. Die Geschichte, die 1941 in Marseille spielt, ins Heute zu bringen, musste ich mit Hilfskonstruktionen begreifbar machen. Ich finde, dass eine Stadt immer viele Zeitebenen gleichzeitig hat. Besonders Marseille, da stehen Gebäude von 1941 und Gebäude von heute. Du gehst durch Berlin und siehst ein Haus in Kreuzberg, das gerade von einer Fondsgesellschaft geräumt wird, davor Stolpersteine die über Deportationen von 1940 berichten. Beides ist gleichzeitig in dem Moment da. Diese Gleichzeitigkeit war für mich der Grund, den Film zu machen, sonst ist das ein historischer Film wie ein Museum. Die Leute gehen dann in den Film wie in ein Museum, aber danach lecker Essen. So ist die Vergangenheit vergangen. Dabei gilt der Faulkner Satz: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ Das ist der entscheidende Satz für historische Filme.

Der Verdacht liegt nahe, dass der Film politisch wichtig ist, weil er vergangene Fluchtgeschichten mit heutigen Fluchtgeschichten vergleicht. Ist dem so?
Im Gegenteil, mit Harun begann ich am Film zu arbeiten, als es die so genannte Willkommenskultur in Deutschland noch nicht gab. Als 2015 Hunderttausende nach Deutschland kamen, war das Drehbuch schon fertig – bis die Silvesternacht in Köln alles veränderte. Ich dachte erst, ich schiebe den Film auf, ich mache keinen Kommentar zur Weltlage. Das ist nicht die Aufgabe von Kino. Ich möchte nicht darauf reduziert werden. Ich mache keine repräsentativen Bilder. Ich finde es großartig, wenn wir kurz das Heute sehen. Georg öffnet die Tür zur Wohnung des Jungen und da ist da plötzlich eine 28-köpfige Flüchtlingsfamilie, die aber von dem Jungen weiß. Als wüssten die heutigen Flüchtlinge von denen von früher. Als wären sie sich begegnet. Solche Momente finde ich toll. Ich will aber nicht sagen: Denkt mal darüber nach.

Sie sagen, Sie kommentieren nicht mit dem Film, gehen aber auf die „so genannte Willkommenskultur“ ein…
Das wurde Willkommenskultur genannt, genau wie man auch Gutmenschen sagt, und daraus wurden Schimpfworte. Ich will nicht das Willkommen kommentieren, sondern fand erstaunlich und erschreckend, wie die Rechten es in drei Monaten geschafft haben, bei Menschen, die sich um Flüchtlinge gekümmert und sie mit offenen Armen empfangen haben, deren Gefühl zu denunzieren.

Es gibt einige Worte, die wir verlieren, indem die Rechte diese für sich missbraucht…
Absolut. Das ist auch das Gespenstische, um auf den Film zurückzukommen. Das sind Worte, die auch 1940 gefallen sind. Diese Sätze sind die wahren Gespenster. Immer wieder taucht dieses „Wir können nicht jeden aufnehmen“ auf.
Die AfD versucht, etwa beim Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, das zu verunglimpfen. Das große Problem der Rechten in Europa ist, dass der Holocaust sie stört. Das haben die Franzosen nicht, deshalb hat der Front National da 28%. Deswegen konnte UKIP in Großbritannien den Brexit herbei faseln. Das Problem der deutschen Rechten ist, dass sie Massenmörder sind und eine Grenze überschritten haben. Das werden die niemals lösen.

Die Flüchtlinge aus den 40er Jahren wollen raus aus Europa, die heutigen wollen rein. Im Film teilen sie sich einen gemeinsamen Transitraum…
Das ist die bildliche Idee. Georg läuft zum Schluss zum Hangar 67 als er erfährt, dass das Schiff untergegangen ist. Da sehen wir diese riesigen Hangarhallen leerstehen. Das sind genau die Hallen, in denen 1940 die Leute auf die Schiffe wollten und das sind heute die Hallen, in denen Flüchtlinge untergebracht sind, die über das Mittelmeer kamen. Jetzt waren die leer, weil keine Flüchtlinge nach Marseille kommen und auch gerade keine Deutschen nach Amerika wollen. Diese staubigen, riesigen Hallen mit ihren Bänken und Getränkeautomaten, die nicht mehr funktionieren, Lichtern, die nicht mehr angeschlossen sind, dort begegnen sich beide Fluchtbewegungen.

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