Regisseur Christian Petzold im Kino-Interview zu „Transit“
Petzold: "Das Kino ist doch ein Ort, wo man das Sehen wieder lernt"
„Transit“ feierte seine Premiere im Wettbewerb der Berlinale. Bei dem Festival ist Regisseur Christian Petzold mit Werken wie „Wolfsburg„, „Gespenster„, „Yella“ oder „Barbara“ (hier unsere Kritik zum Film) Stammgast. Sein Freund, der 2014 verstorbene Harun Farocki, machte ihn auf Anna Seghers Roman „Transit“ aufmerksam, den er erfolgreich adaptierte und ins heutige Marseille transportierte. Im Interview erklärt Petzold, warum ihn jahrelang die deutsche Literatur nicht interessierte, was er sich von der Berlinale der Zukunft wünscht, an welche Darsteller er beim Schreiben dachte und wieso er keinen Kommentar zur Weltlage abgeben will…
Herr Petzold, Sie haben den Brief zur Zukunft der Berlinale unterzeichnet. Wie nehmen Sie die Diskussion wahr und was wünschen Sie der Berlinale für die Zukunft?
Christian Petzold: Der Brief hat seine Schuldigkeit getan, weil über ihn diskutiert wird. Es sollte aber nicht so diskutiert werden, als würde Borussia Mönchengladbach einen neuen Trainer suchen. Auf dieses Niveau ist es aber heruntergebrochen worden. Es geht darum, dass man angesichts der Neubesetzung, die übernächstes Jahr ohnehin ansteht, überlegt, was man machen kann. Was bedeutet Festival? Ist das ein Labor? Ist es Markt? Beides? Wie lässt sich das ausbalancieren? Brauchen wir das in der durchdigitalisierten Welt, die zum Beispiel dazu führt, dass wir in der Musik keine Alben mehr hören sondern Songs. Wir sind reine Consumer. Das gibt es im Film auch, Netflix ist Spotify mit Filmen, die abgeramscht werden. Einige Serien werden beworben, aber die brauchen trotzdem Filme für 9,90 Euro im Monat. Man muss sich nur mal die Inhaltsangaben durchlesen, die die schreiben. Als wären wir bescheuert. Muss die Berlinale nicht gegen diese Verschlampung und Verwahrlosung von Geschichte, von Film, von Herkunft ankämpfen und nicht noch stärker das Kino beleben. Zusätzlich zum Markt und toller Kleidung.
Sie sagen „Das Kino liebt Gespenster“ und geben diesen immer wieder einen Platz in Ihren Werken. Wie kommt das?
Es treibt die Figuren im Kino an, zum Gespenst zu werden. Ein Beispiel: John Fords „The Seachers“ („Der schwarze Falke„), ein Film, auf den sich alle einigen können, der zu den zehn besten Filmen aller Zeiten gehört. Da kommen Leute aus dem Bürgerkrieg nach Hause und keiner braucht sie mehr. Die sind vielleicht schon Gespenster oder im Begriff, Gespenster zu werden. Das Kino zeigt ihren Kampf gegen das Gespenstisch-werden, gegen die Identitätslosigkeit. Die brauchen eine Aufgabe, ob sie nun eine Bank überfallen, eine Frau erobern oder Indianer jagen. Ich fand immer wichtig, dass Kino nicht nur von Gespenstern handelt, sondern das Werden der Gespenster zeigen möchte.
Weiterlesen: Henning Kochs ausführliche Kritik „Übergangszustand der Geister aus der Vergangenheit„ zu „Transit„…
Haben Sie das in der Vorlage von Anna Seghers gefunden?
Ich habe zehn, vielleicht fünfzehn Jahre keine deutsche Literatur mehr gelesen. Ich habe nichts entdeckt, was mich interessiert hat und nur angloamerikanische Literatur gelesen. Die hat etwas, was der europäischen und vielleicht besonders der deutschen Literatur fehlt, das ist die unfassbare Einsamkeit der amerikanischen Protagonisten. Das kann jeder erfahren, der schon mal dort war. Dieser Drang, der Einsamkeit zu entfliehen, indem man jedem, den man trifft, seine Geschichte erzählt. Diese große amerikanische Tradition des Angelabert-Werdens findet sich in der Literatur, bei Faulkner, Charles Whitford oder Hemingway. Im Moment des Erzählens bin ich kein Gespenst mehr. Ein Gespenst ist jemand, der nicht mehr erzählen kann, der sich auflöst. Dieses Orale, diese Oral-History der Amerikaner, ist etwas, das ich in diesem Jahren in Deutschland nicht gefunden habe.
Harun (Farocki) gab mir dieses Buch, das 1941 skizziert und 1944 aufgeschrieben wurde und ich dachte, das kann nicht wahr sein. Ohne in Amerika gewesen zu sein, ahnt da jemand diese Oral-History, ist aber sprachlich noch in Deutschland. Das Bucht selbst ist transit. Ich musste in der Schule Siegfried Lenz lesen, dabei gibt es so tolle Sachen.
Ist es damit folgerichtig, dass Ihr Georg eben dies abblockt? Er will die Geschichten der anderen Fliehenden nicht hören…
Er hat das Gelaber der Leute, das die mit sich herumtragen, satt. Er will Gegenwart, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Im Buch ist er jemand, der mit vielen Frauen schläft,der charmant ist, ein Schelm, vielleicht sogar ein Kleinkrimineller oder Tagedieb. Das hat Franz Rogowski auch ein wenig in sich drin. Sein Georg möchte sich nicht verantworten. Dieser Junge schaut ihn an, er könnte an die Seite der Mutter an die Position des toten Ehemanns rücken und damit gäbe es eine Ordnung für alle, aber dem entzieht er sich. Er hat ein Buch dieses gestorbenen Schriftstellers gelesen, er bekommt seine Geschichte und nimmt die an. Die Geschichte bringt ihm nicht nur eine neue Identität und Geld, sondern auch Verantwortung. Er wird so erwachsen. Das gefällt mir so an der Figur.
Dieses Orale integrieren Sie durch das Voice-Over in den Film. Es kommentiert, was man im Film sieht, bewegt sich aber doch manchmal daneben…
Die Ich-Perspektive des Romans habe ich nicht übernommen. Im Kino habe ich bei Filmen, die die Ich-Perspektive einnehmen, immer das Gefühl, dass der Zuschauer verarscht wird. Ob bei „Die üblichen Verdächtigen“ oder bei „Fight Club„, ich tue so als sei ich Subjekt, bin ich aber gar nicht. Ätsch, ich habe euch verarscht. Deswegen war ich gegen Voice-Over. Was mich daran fasziniert ist, dass man so jemandem anderen die Geschichte erzählt und der sie weitererzählt. Wir sehen aber nicht das, was er uns erzählt, sondern das, was passiert. Manchmal ist das deckungsgleich, manchmal verschiebt es sich. Der Erzähler sagt „die küssen sich“, aber die küssen sich nicht. Er sagt etwas und das passiert erst später. Ein Zeuge, der wahrhaftig ist, sich aber nicht präzise erinnert. Dadurch wird das Voice-Over zu Musik und nicht zum Kommentar.