Bent Hamer über THE MIDDLE MAN


Still aus THE MIDDLE MAN, Bent Hamer © John Christian Rosenlund
Still aus THE MIDDLE MAN, Bent Hamer © John Christian Rosenlund

Der norwegische Regisseur Bent Hamer erzählt in seinem neuen Film von der US-amerikanische Arbeiterschicht

Bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck feierte der neue Film des norwegischen Regisseurs Bent Hamer seine Deutschlandpremiere. Die Tragikomödie war im Herbst Teil des Programms des Filmfestivals in Toronto, doch leider konnte Hamer zu dem Zeitpunkt nicht an der Veranstaltung teilnehmen. Wie er im persönlichen Gespräch in Lübeck berichtete, war die Enttäuschung besonders groß, weil ihm die Reise nach Kanada erst im letzten Moment unmöglich gemacht wurde. Denn selbst früher in diesem Jahr an Corona erkrankt, hatte er einzig eine Impfdosis erhalten. Das hätte im Grund für eine unkomplizierte Reise nach Kanada genügt. Doch kurz vor dem Festival änderten sich aber die staatlichen Bestimmungen und nach Kanada konnten nur Menschen mit einer doppelten Impfung einreisen. Abgesehen davon, dass es sich bei Toronto um eines der international prestigeträchtigsten Festivals handelt, war diese Entwicklung für Hamer doppelt bitter. Sein Film THE MIDDLE MAN wurde nämlich in Kanada gedreht.

Eigentlich spielt der Film, der zweite nach FACTOTUM, in den USA. Doch die Drehbedingungen und -herausforderungen waren derart schwierig, dass schließlich eine Ortschaft an der Grenze zwischen den USA und Kanada zum Schauplatz wurde.“In den USA hätte ich mich verpflichten müssen, mit Superstars wie Tom Cruise arbeiten zu müssen.“ In Kanada sei es einfacher, zu drehen, da die Regeln ähnlicher seien zu denen in Europa. Auch weil Kanada Eurimages angeschlossen ist. „Ich habe viel gelernt während der Produktion.“, meinte Hamer. Auf die Frage, ob die Geschichte, die er aus einem episodisch aufgebauten Roman gezogen hat, auch in Europa hätte spielen konnte, antwortete Hamer: „Die Sprache des Romans ist sehr spezifisch auf die USA ausgerichtet. Ich hätte sehr viel ändern müssen, aber sie gefiel mir so bereits sehr gut. Die Priorität war also auf Englisch zu drehen. Natürlich wäre es möglich gewesen, rein von den Kulissen beispielsweise in Irland oder in Rumänien, wo viele Kulissen bestehen, die an die USA erinnern, zu drehen.“

Schließlich wurde es also der Ort in Kanada. „Es handelt sich um eine von einer Brücke zweigeteilte Stadt.“, erzählt Hamer, „die die Atmosphäre des so genannten „Rust Belt“ („Rostgürtel“) der USA wiedergibt.“ Diese Region ist geprägt von einer schwindenden Industrie, die viel Arbeitslosigkeit und damit Perspektivlosigkeit bei den Einwohnern ausgelöst hat. Genau diese Atmosphäre fängt der Film eindrücklich ein. Um sich auf den Film vorzubereiten hat Hamer recherchiert und stiess auf einige norwegische Dokumentarfilme, die Menschen befragen und die Situation beschreiben. Er selbst sei herumgereist und viele Familien besucht, um sich dessen Geschichte anzuhören.

Hamer adaptiert in THE MIDDLE MAN den Mittelteil des Romans SLUK von Lars Saabye Christensen, der 2012 erschien (in der deutschen Übersetzung lautet der Titel DER SOMMER, IN DEM MEINE MUTTER ZUM MOND FLIEGEN WOLLTE und erschien bei btb). „Der Roman erschien noch vor der Trump-Zeit, die erst mit dem Brennglas auf die Situation dieser Menschen hat sehen lassen. Doch diese lebt schon lange so. Es handelt sich um eine große Bevölkerung, die ums Überleben kämpft. Ich fühle mit diesen Menschen mit. Ihre Situation berührt mich.“, meinte Hamer über die Bedeutung des Textes für ihn. „Es ist dieses Gefühl der Ohnmacht, das ich im Film wiedergeben wollte.“

Sein Protagonist Frank lebt bei seiner Mutter und ist arbeitslos. Einst hat er bei der Bahn gearbeitet und weiß genau, was es bedeutet, Menschen schlechte Nachrichten mitteilen zu müssen. Denn nach und nach sind immer mehr Züge ausgefallen und Bahnlinien stillgelegt worden. Diese Fähigkeit soll er nun als neuen Mittelsmann der Gemeinde unter Beweis stellen. Im Ort finden viele tödliche Unfälle statt. Wenn erst das Geld für die Beleuchtung der Straßen ausgehen werde, meint der Bürgermeister, werde sich die Situation noch verschlechtern. Doch daran scheint es nicht wirklich zu liegen. Vielmehr ist es die Verzweiflung, den Mangel einer Zukunftsperspektive, die die Menschen in den Freitod drängen.

Ausgerechnet als Frank seine Stelle antritt, kommt es zu einer ruhigen Phase. In seinem Büro geht er alte Fallakten durch, bewundert seine druckfrischen Visitenkarten und bandelt mit der Sekretärin an. Seinen neuen maßgeschneiderten schwarzen Anzug zieht er nicht mehr aus, muss er doch für jeden Notfall bereit sein. „Unfälle“ hielten sich schließlich nicht an Bürozeiten. Doch dann überschlagen sich die Vorfälle plötzlich. Sein bester Freund fällt ins Koma, nachdem er von einem Trunkenbold gestossen wurde und sich an einer Jukebox den Kopf aufschlägt, dessen Vater nimmt sich aus Verzweiflung das Leben und Frank ist beider einziger Erbe. Stoisch und mit einer selbstgerechten Haltung legt sich Frank alles zurecht.

Gespielt wird er von Pål Sverre Hagen, ein norwegischer Schauspieler. „Da wir Englisch drehten, musste ich Schauspieler haben, die sehr gut Englisch können.“ Das war auch bei Nicolas Bro in einer Nebenrolle als Priester und vor allem Nina Andresen Borud, die Franks Mutter spielt, der Fall. „Letztere stammt aus meinem Heimatort in Norwegen, ist aber in Kanada geboren und aufgewachsen.“ Unterstützt wird die Besetzung durch eine Reihe kanadischer Schauspieler. „Wir haben uns überlegt, ob es wichtig sei, dass die Darsteller einen bestimmten Akzent sprechen würden, damit man sie örtlich genauer verortet. Doch wir haben uns schließlich dagegen entschieden. Denn es ist der Charakter einer größeren Stadt, dass Menschen aus verschiedenen Regionen herziehen, um dort zu arbeiten.“

Die etwas stilisierte Sprache ist nur eines der Elemente des Films, die diesem eine zeitlose und ortsungebundene Stimmung geben. Hamer beschreibt eine Dystopie und nutzt verschiedene formale Mittel wie die Farbpalette, Lichteinfall und Beleuchtung um, diese zu einer Art Albtraum zu machen, in dem „kein Glaube an die Zukunft mehr besteht“, wie er selbst sagt. Angesprochen auf seine eigene melancholische Seite, meinte der Regisseur lakonisch, dass er vermutlich dem „Vodkagürtel“ angehöre.

Abgesehen von seinen ernsthaften Momenten, hat THE MIDDLE MAN auch einige humorvolle Szenen, die insbesondere dann auftreten, wenn der Protagonist Frank seinen Aufgaben als Mittelsmann nachkommt. Der Film wirft im übrigen auch genau die Frage auf, welche Bedeutung eine solche Position in unserer Gesellschaft haben könnte. In vielen Fällen sei das System nämlich gar nicht handlungsfähig, denn Priester, Polizei oder Arzt alternierten vielfach in der Übernahme dieser Aufgabe. „Doch braucht es keine spezifischen Eigenschaften, um diese richtig auszuführen?“, fragt sich Bent Hamer.

Das Gespräch mit Bent Hamer führte Teresa Vena.

THE MIDDLE MAN, Regie: Bent Hamer, Darsteller: Pål Sverre Hagen, Nina Andresen Borud, Nicolas Borud, Bill Lake, Don McKellar, Kenneth Welsh, Rossif Sutherland, Tuva Novotny