„Ich wollte mit dem Begriff ‚ungleich‘ spielen und anregen, ihn anders zu denken“


BFF-Herausgeber Denis Demmerle im Gespräch über die von ihm kuratierte Filmreihe „ungleich!“ im Open Air Kino am Checkpoint Charlie

Seit zehn Jahren widmet sich die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb mit seinen alljährlichen Open Air Kinoabenden am historisch bedeutsamen Standort „Checkpoint Charlie“ auf unterhaltsame Weise ernsten Themen bzw. regt zum Nachdenken an. Jeden Sommer werden fünf bzw. sechs Filme zu einem Thema ausgewählt und im August/September in dem sommerlichen Ambiente der Beach Bar „Charlie’s Beach“ gezeigt.

Bis dato beschäftigte die Reihe sich schon unter anderem mit der Berliner Mauer und dem zweiten Weltkrieg, Flucht und Asyl, künstlicher Intelligenz aber auch mit dem blauen Planeten. Neben den Filmvorstellungen finden an einigen Abenden im Anschluss Filmgespräche statt, bei denen das Thema des Films vertieft und einen Blick hinter den Kulissen geworfen wird.

In diesem Jahr hat BFF-Herausgeber Denis Demmerle den kuratorischen Hut auf – ein guter Anlass, mit ihm über die von ihm veranstaltete Reihe „ungleich!“ zu sprechen.

Wie ist die Idee für die Reihe „ungleich!“ entstanden?
Denis Demmerle: Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) veranstaltet schon seit einigen Jahren Openair-Kinoreihen am Checkpoint Charlie. 2012 ging es dort mit einer Reihe los, in der sich Filme mit dem Thema „Kalter Krieg“ auseinander gesetzt haben, 2021 hat zum Beispiel BFF-Autor Karl-Leontin Beger eine Reihe zusammengestellt, die sich mit „Der blaue Planet“ auseinandergesetzt hat. Die bpb kam mit dem Thema „ungleich!“ auf mich zu, was zuerst den Soziologen in mir angesprochen hat und dann den Kurator.

Ungleichheit – da denke ich zuerst an ökonomische Ungleichheit, dein Programm setzt aber, wenn ich das richtig sehe, eher Schwerpunkte in den Bereichen Antirassismus und Gendergerechtigkeit. Wie kommt das?
Ökonomische Ungleichheit war auch mein erster Gedanke. Allein mit den klugen Filmen vom alten britischen Klassenkämpfer Ken Loach hätte man problemlos einen Kinosommer füllen können, aber letztendlich fand ich alle zweiten Gedanken interessanter, weshalb auch zum Beispiel die Dardenne-Brüder nicht dabei sind.
Ich wollte mit dem Begriff „ungleich“ spielen und will dazu anregen, das Thema anders und in unterschiedlichen Facetten zu denken. Deshalb eröffnen wir mit dem Klassiker HAROLD UND MAUDE und einer Komödie, wenn auch einer sehr schwarzen Komödie. Das übrigens bei seiner Veröffentlichung weitgehend in die Tonne gekloppte Werk, das erst mit den Jahren zum Kultfilm wurde, entwickelt seine Dynamik durch ein sehr ungleiches Paar, das vielleicht sogar ein Liebespaar ist. Die lebensfrohe Maude, die problemlos die Großmutter vom todessehnsüchtigen Harold sein könnte, löst bei dem Jüngling etwas aus, das er bis dahin nicht kennt. Dass beide ein Hobby teilen, nämlich Beerdigungen von Fremden zu besuchen, ist dabei nur ein Anfang.

Die Dekonstruktion des Themas „ungleich!“ war ebenso spannend, wie das anschließende neu zusammenpuzzeln. Rassismus und Gendergerechtigkeit waren auch solche Puzzleteile. Lelio, dessen GLORIA auch gepasst hätte, entwickelt in seinem EINE FANTASTISCHE FRAU gleichzeitig eine warme Empathie für seine trauernde Hauptfigur wie er die unmenschliche Gesellschaft um sie herum fast lautlos anschreit. Das alles in betörenden Bildern, die für eine große Leinwand gemacht sind.

SELMA kam mir in den letzten Monaten immer wieder in den Sinn, wenn ich die Proteste der Black Lives Matter-Bewegung gesehen habe, die einem immer wieder vor Augen führen, wie unfassbar rassistisch unsere Gesellschaft noch immer ist. War das damals in den USA erstrittene Wahlrecht ein Meilenstein, sind wir fast 60 Jahre später leider nicht viel weiter vorangekommen.

Beim Thema Ungleichheit fallen mir außerdem sofort eine Menge Dokumentarfilme ein, warum ist es LIEBE, D-MARK UND TOD geworden?

Der Berliner Regisseur Cem Kaya feiert ein Heimspiel bei uns. Er stellt uns im aktuellsten Werk der „ungleich!“-Reihe Musiker*innen vor, die Superstars waren, aber heute kaum einer kennt, weil die deutsche Mehrheitsgesellschaft sie ebenso ignoriert hat wie die, die sie als „Gastarbeiter“ zwar gerufen haben, deren Integration aber nicht vorgesehen war. Ein Zitat des türkischen Musikers Cem Karaca bringt es ganz gut auf den Punkt, er sagte: „Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an.“ Kayas musikalische Geschichtsstunde, die bei der Berlinale den Publikumspreis gewonnen hat, spannt einen Bogen von den schnulzigen Liebesliedern, die weder damals noch heute im Radio liefen, bis zur heutigen Musik der Kinder und Kindeskinder, die nicht selten mit wütendem Rap und Hiphop ihren Gefühlswelten eine Form geben. Auf das Gespräch mit Kaya nach dem Screening freue ich mich schon sehr.

Übrigens ebenso wie auf den Besuch von Regisseur York-Fabian Raabe und Produzent Alexander Wadouh, die zum Screening von BORGA kommen. Mit BORGA gelingt Raabe ein Blick auf die Spannungsfelder, die zwischen ungleichen Leben und Erwartungen wie zwischen Ankunfts- und Herkunftsland entstehen.

Wie sind die Screenings in das Programm der Bundeszentrale eingebettet bzw. wie werden sie inhaltlich flankiert?

Die bpb ist die Instanz, was politische Bildung in Deutschland angeht. Zu allen Themen, die mit „ungleich!“ aufgegriffen werden, findet sich vertiefendes Material bei ihr – und genau dazu, zur Vertiefung dieser Themen, will ich mit den ausgewählten Film anregen. In einem Werk wie Nadine Labakis CAPERNAUM steckt so viel drin, was nicht oder kaum über die mediale Wahrnehmungsschwelle in diesen verrückten Zeiten vordringt. Über Beirut oder den Libanon weiß kaum jemand irgend etwas. Dort sind 1,5 Millionen Geflüchtete aus Syrien aufgenommen worden – bei gerade mal sechs Millionen Einwohner*innen. Das Land ist sehr instabil und oft am Rande des Kollapses, aktuell droht eine Hungersnot. Einzig die unwirkliche Explosion im Hafen von Beirut drang vor zwei Jahren mal in unsere Nachrichten vor. In dem Drama blicken wir durch Kinderaugen auf das Land, das aus dem elfjährigen Zain einen Mörder macht. Dafür klagt er seine Eltern an, sein Heimatland – und auch uns, weil wir das zulassen.

Für alle gefragt, die noch nie da waren: Was macht das Open Air am Checkpoint Charlie so besonders?

Bewegendes Kino in lauen Sommernächten unter freiem Himmel, mitten in Berlin, am geschichtsträchtigen Checkpoint Charlie, das hat schon was. Der Eintritt ist frei, weil jeder willkommen sein soll. Ich glaube, jeder nimmt nach jedem der Filmvorführungen etwas mit nach Hause, einen neuen Gedanken, Emotionen und Eindrücke, vielleicht auch eine Begegnung. Es lohnt!

Die Fragen stellte Marie Ketzscher.

Die Filme der Openair-Kinoreihe „ungleich“ laufen immer donnerstags, von 28. Juli bis 1. September 2022, bei Charlie’s Beach am Checkpoint Charlie (Friedrichstraße 48. 10117 Berlin).