Aperol und alte Filme: Das Il Cinema Ritrovato in Bologna


Il Cinema Ritrovato Festival © Margherita Caprilli

Festivalbericht zum Il Cinema Ritrovato (25. Juni – 3. Juli)

Bologna ist nicht nur die Geburtsstadt von Pier Paolo Pasolini, Mortadella und Bolognese, sondern beheimatet auch das Il Cinema Ritrovato. Seit 1986 organisiert das Filmarchiv Cineteca Bologna ein Festival, das seinesgleichen sucht. Der Titel (übersetzt: „das wiederentdeckte Kino”) ist Programm, denn hier dreht sich alles um Filmgeschichte. Zusehen gibt es Retrospektiven, vergessene Filmperlen oder frisch restaurierte Klassiker aus Archiven und Laboren überall auf der Welt.

Wer sich für Filmrestauration interessiert, kann an Workshops und Vorträgen teilnehmen oder ungezwungen mit Restaurator*innen ins Gespräch kommen. Dennoch empfängt das Festival nicht nur Fachleute, sondern auch Kinoliebhaber*innen mit offenen Armen. Glitz und Glamour gibt es hier jenseits der Leinwand ebenso wenig wie Ellenbogengerangel um Kinokarten. Das Festival ist eines der entspanntesten in Europa und trotz der zahlreichen Besucher*innen alles andere als anonym. Man trifft sich abends auf der Piazzetta Pier Paolo Pasolini vor der Cineteca, um Filme auf einem Carbonprojektor zu bestaunen, Programmempfehlungen auszutauschen oder Aperol zu trinken. Das Festival verlässt man am Ende mit einer neu entflammten Liebe für das Kino, einem erweiterten filmischen Horizont und dem Wissen, dass ein Blick zurück manchmal der erste Schritt nach vorn ist. Das Il Cinema Ritrovato ist die perfekte Mischung aus Urlaub und Filmfestival, aus vertrauten Klassikern und historischen Neuentdeckungen. Verbesserungsbedarf gibt es einzig beim Thema Diversität – auch 2022 stammte der absolute Großteil der Filme von männlichen Regisseuren, Drehbuchautoren und Produzenten.

Im folgenden vier Filme, die mich besonders beeindruckt haben.

KENKI (1965, JP) von Kenji Misumi

KENKI © Il Cinema Ritrovato Festival © Il Cinema Ritrovato Festival

Hanpei (Raizô Ichikawa) kümmert sich am liebsten um die Chrysanthemen in seinem kleinen Garten. Hanpeis grüner Daumen verhilft ihm zunächst zur Anstellung als Gärtner am örtlichen Herrensitz. Dabei bleibt es allerdings nicht lange, denn das Fürstentum ist in Aufruhr. Der Herrscher ist so erratisch wie unfähig, seine Berater spinnen Intrigen und aus anderen Herrschaftsgebieten werden Spione an den Hof geschleust. Eines Tages beobachtet Hanpei einen alternden Krieger bei seinen Kenjutsu-Übungen. Er ist so beeindruckt, dass er ihn bittet, ihm die Kampfkunst beizubringen. Hanpei, so stell sich heraus, hat eine nahezu übernatürliche Begabung für den Schwertkampf und sieht sich deshalb bald gezwungen, als Assassine im Dienste des Hofes zu arbeiten.

Ein Assassine, der eigentlich nur gärtnern will, aber ein verhängnisvolles Talent für Gewalt hat und eine Liebesgeschichte, die so zart ist wie die Blumen in Hanpeis Garten – in KENKI zelebriert Kenji Misumi das Genre des Samourai-Films (japanisch: chanbara) und unterwandert gleichzeitig dessen zentrale Themen. Viele von Kenji Misumis Filmen setzen sich mit der fatalen und traurigen Verschränkung von Männlichkeit und Gewalt auseinander. KENKI stellt Gewalt als Spektakel zur Schau, verdeutlicht aber gleichzeitig, wie sinnlos die Konfliktlösung mit dem Schwert ist. Es bleibt nie bei nur einem Mord, Gewalt gebiert Gewalt und Hanpei kann sich dieser Spirale am Ende nicht entziehen. Das ist umso tragischer, da klar ist, dass er dem Schwertkampf eigentlich seine Pflanzen vorzieht. Im Hintergrund der Handlung steht immer der Traum, die Sehnsucht nach einem friedlichen Leben, in dem Gewalt durch Fürsorge ersetzt wird.

Wie ausweglos die Figuren in Geschlechterrollen und sozialen Hierarchien gefangen sind, hält die Kameraarbeit von Chikashi Makiura im Wechselspiel aus einengenden Close-ups und weitläufigen Landschaftsaufnahmen fest. Die Hauptrolle spielt wie in so vielen Misumi-Filmen Raizô Ichikawa, der nicht umsonst auch als japanischer James Dean bezeichnet wird. Ichikawa und Dean starben nicht nur beide einen frühen Tod, ihr Schauspiel ist auch von einer Verletzlichkeit geprägt, die bis heute nur wenig an emotionaler Schlagkraft verloren hat.

Der Film sollte ursprünglich der erste in einer ganzen Reihe sein, doch geringe Zuschauerzahlen machten einen Strich durch die Rechnung. Zusammen mit KIRU (1962) und KEN (1964) gilt KENKI heute als letzter Teil von Misumis inoffizieller Schwert-Trilogie. Das Il Cinema Ritrovato zeigte KENKI im Rahmen einer Misumi-Retrospektive, die sich auch jenseits des Festivals im eigenen Wohnzimmer zu kuratieren lohnt. Auch in Filmen wie SHIROKOYA KOMAKO (1960) und NAMIDAGAWA (1967) setzt Misumi sich mit japanischer Geschichte, Geschlechterrollen und Genretraditionen auseinander.

BUCK AND THE PREACHER (USA, 1972) von Sidney Portier

BUCK © Il Cinema Ritrovato Festival

Kansas in den 1860er-Jahren, kurz nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges. Der ehemalige Soldat Buck (Sidney Portier) unterstützt Wagenkolonnen mit afroamerikanischen Siedler*innen dabei, die Südstaaten hinter sich zu lassen und ein neues Leben im spärlich besiedelten Kansas zu beginnen. Doch weiße Plantagenbesitzer*innen wollen die Abwanderung verhindern. Sie haben Banditen angeheuert, die die Siedler*innen entweder zur Rückkehr zwingen oder gleich ermorden sollen. Auf Buck haben sie es besonders abgesehen, weshalb dieser sich schon bald auf der Flucht befindet. Dort begegnet er dem „Reverend” Willis Oaks Rutherford (Harry Belafonte), einem eher zwielichtigen Gesellen. Eines führt zum anderen und schon bald sehen sich die beiden zur Zusammenarbeit gezwungen. Gemeinsam mit Bucks Ehefrau Ruth (Ruby Dee) schmieden sie einen Plan, der den Banditen ein für allemal das Handwerk legen soll.

BUCK AND THE PREACHER ist nicht nur die erste Regiearbeit von Sidney Portier, sondern auch einer der ersten Westernfilme überhaupt, der Schwarze Held*innen ins Zentrum seiner Handlung stellt. Der historische Kontext dieser Handlung ist alles andere als fiktiv: Nach dem Ende des Sezessionskriegs emigrierten viele Afro-Amerikaner*innen aus Mississippi, Louisiana und Tennessee nach Kansas. Den auch wenn Sklaverei in den Südstaaten de facto verboten war, setzten weiße Plantagenbesitzer*innen alles daran, Schwarze Amerikaner*innen davon abzuhalten, selbst Land zu erwerben. Sklaverei wurde durch neue Gesetze und Praktiken wie das Sharecropping fortgesetzt.

BUCK AND THE PREACHER ist ein Western mit atemberaubenden Landschaftsaufnahmen, Verfolgungsjagden zu Pferde und zwei Titelhelden, die so moralisch komplex wie charismatisch sind. Der Jazzsoundtrack von Benny Carter wird dem Western-Setting mehr als gerecht und unterwandert gleichzeitig musikalische Genretraditionen. Der Film lässt sich als Metapher auf die US-Amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre lesen, die behandelten Themen sind jedoch bis heute aktuell: Wohnraum und Eigentumsrecht, struktureller Rassismus, Fortsetzung der Sklaverei mit anderen Mitteln. Das Erbe von BUCK AND THE PREACHER hallt nicht nur thematisch bis in die Gegenwart nach, auch aktuelle Filme wie der Western THE HARDER THEY FALL (Jeymes Samuel, 2021 USA) und Jordan Peeles Horror-Sci-Fi-Western NOPE (2022 USA) würdigen Sidney Portiers Regiedebüt mit zahlreichen Referenzen.

Il Cinema Ritrovato zeigte die frisch restaurierte 4K-Version des Films, die seit Kurzem auch als Criterion Collection Bluray erhältlich ist.

DANS LA NUIT (1930, F) von Charles Vanel

DANS LA NUIT © Il Cinema Ritrovato Festival

In einem kleinen Dorf in der Nähe eines Steinbruchs heiratet ein junges Paar. Ein dramatischer Arbeitsunfall lässt den frisch vermählten Ehemann (Charles Vanel) kurz darauf mit einem erstellten Gesicht zurück, das er fortan unter einer Maske versteckt. Der Unfall hinterlässt auch unsichtbare Spuren. Der Mann geht nur noch nachts aus dem Haus; seiner Ehefrau (Sandra Milovanoff) gegenüber ist er abweisend und wortkarg. Verzweifelt und einsam sucht sie Trost in den Armen eines anderen Mannes. Die beiden wollen ein neues Leben beginnen, doch dann werden sie eines Nachts vom maskierten Ehemann überrascht.

Charles Vanel wirkte als Schauspieler an mehr als einhundert Stummfilmen mit, bevor er auf dem Höhepunkt seiner Karriere den Schritt hinter die Kamera wagte. DANS LA NUIT ist sein erster und einziger Langfilm als Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller. Der Film feierte am 30. Mai 1930 Premiere – zu einem Zeitpunkt, als der junge Tonfilm bereits seinen Siegeszug angetreten hatte. Kurzerhand wurde DANS LA NUIT aus den Kinos genommen und geriet bis zu seiner ersten Restauration im Jahr 2002 in Vergessenheit. Heute gilt er als einer der letzten französischen Stummfilme überhaupt.

DANS LA NUIT gehört zu jenen späten Stummfilmen, die die Grenzen des Mediums bis zum äußersten ausreizen. Der Film kommt mit nur wenigen Zwischentiteln aus und erzählt seine Geschichte stattdessen mit suggestiven Bildern und innovativen Schnitten. Das Ergebnis ist so kompromisslos-modern wie verstörend. Tempo und Bildsprache entsprechen heutigen Sehgewohnheiten und auch die Geschichte ist überraschend fortschrittlich. Statt die junge Ehefrau als hinterlistige Ehebrecherin darzustellen, konzentriert sich der Film auf die Tragik einer langsam zerbrechenden Beziehung.

THE DRIVER (USA, 1978) von Walter Hill

DRIVER © Il Cinema Ritrovato Festival

Lust auf Autoverfolgungsjagden quer durch Los Angeles? Auf Ryan O’Neal im Creepymodus, Bruce Dern als fiesen Detective und Isabelle Adjani mit coolem Schlapphut? THE DRIVER von Walter Hill ist so präzise getaktet wie ein Schweizer Uhrwerk: Die Action-Sequenzen haben exakt die richtige Länge, sie fühlen sich so dynamisch und echt an, dass man sich im Kinosessel unwillkürlich mit in die Kurven legt. Der Film ist perfekt. Ein Western in der Großstadt, ein Actionfilm, eine Auseinandersetzung mit Gewalt und Geschlechterrollen. Seinerzeit ein Misserfolg an den Kinokassen haben Filmnerds und Regisseure wie Edgar Wright und Quentin Tarantino THE DRIVER in den letzten Jahren zum Status eines wiederentdeckten Meisterwerks verholfen. Es ist ein Film, der seiner Zeit voraus war, der zeitlos ist. Oberflächlich betrachtet, scheint ihn nicht viel von anderen Actionfilmen zu unterscheiden, und doch ist er grundlegend anders als alles, was sonst aus Hollywood kommt, damals wie heute. Ein Film, der auch nach zwei, drei Mal Schauen nicht langweilig wird, in den man am liebsten hineinkriechen würde, weil er so fesselnd und ungewöhnlich und gleichzeitig vertraut ist. Großes Kino!

Teresa Rodewald