Train to Busan…


Bericht vom Busan International Film Festival 2022

Das Busan International Film Festival hat begonnen. Vom 5. bis 15. Oktober reisen wieder internationale Gäste in die zweitgrößte Stadt Südkoreas zum größten Filmfestival Asiens. Wir sind dabei und zeigen, was das asiatische Kino gerade beschäftigt.

Von blossem Auge lassen sich keine Schäden an der Wirtschaft feststellen oder markante Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Geschäfte, die man von vor der Pandemie kannte, sind noch da. Einzelne haben ihren Besitzer gewechselt, doch nur um eine noch glanzvollere Fassade zu erhalten. Doch es sind nicht mehr die gleichen Maßen an Menschen, die durch die Straßen des Ausgehviertels von Busan Haeundae strömen. In den Preisen fürs Hotelzimmer machen sich auch Preissteigerungen bemerkbar. Wie sehr sich sonst eine wirtschaftliche Krise auf die Gesellschaft auswirkt ist natürlich ohne fundierte Kenntnisse, nur schwer festzustellen.

Was auffällt ist aber, dass es mehr Personen als sonst gibt, die betteln oder ganz offensichtlich vernachlässigt sind, weil sie vermutlich obdachlos sind. Mit Obdachlosigkeit geht man in Korea anders um als im europäischen Westen, es gibt sie, man sieht sie aber nur selten. Sie betrifft meist Menschen, die aus der Familienstruktur herausfallen, in den Städten ihre Unterkunft durch den Sanierungsfleiss und die damit die Neuzusammensetzung und Überteuerung der Quartiere verlieren. Außerhalb der Filmthemen hat man diese arme Bevölkerungsschicht sonst vor allem in den Filmen gesehen. Ein erster Blick ins Programm des Filmfestivals lässt auch erahnen, dass es dieses Jahr einige Beiträge gibt, die sich genau damit beschäftigen.

Und bereits der Eröffnungsfilm macht es vor. Das Busan Filmfestival eröffnete mit einem iranischen Film. Es wird auch hier ein gutes Jahr für das Kino aus dem Iran sein. Einige andere internationale Festivals haben bereits vorgelegt, wie die Berlinale mit TA FARDA von Ali Asgari, LEILA’S BROTHERS von Saeed Roustaee und HOLY SPIDER von Ali Abbasi in Cannes, NO BEARS von Jafar Panahi und BEYOND THE WALL von Vahid Jalilvand in Venedig. Diese Filme sind nun auch in Busan zu sehen, dazu noch LIFE & LIFE von Ali Qavitan sowie eben SCENT OF WIND von Hadi Mohaghegh.

SCENT OF WIND von Hadi Mohaghegh – Würde in der Bescheidenheit

SCENT OF WIND von Hadi Mohaghegh © BIFF 2022

Der vierte Spielfilm des Regisseurs erzählt an sich eine sehr einfache Geschichte, die Bilder des hügeligen iranischen Hinterlandes allerdings und die sich einem nach und nach präsentierenden Figuren ergreifen einen in kürzester Zeit. Zu Beginn sieht man einen Mann, der an einem steilen Felshang herumklettert und irgendetwas erntet. Dann erreicht er sein Haus, eine bescheidene Hütte, wo sein vollständig gelähmter Sohn liegt. Auch der Mann ist körperlich beeinträchtigt, er kann seine Beine nicht strecken, weswegen er sich nur langsam mit Hilfe seiner Arme fortbewegen kann.

Der Blick auf diese routinierten, aber mühsam wirkenden Handgriffe ist im ersten Moment kaum erträglich. Ist das hier nicht Armuts- und Elendsvoyeurismus? Doch der Film stellt seine Protagonisten nicht bloss, vielmehr gewinnen sie durch ihn an Würde. In der  ganzen sichtbaren Härte findet sich auch etwas Liebevolles, auf eindringliche Weise vermischen sich in SCENT OF WIND ein Gefühl der Traurigkeit und einem der Freude, der Ehrfurcht und der emotionalen Wärme. Die melodramatische Wendung zum Schluss bleibt aus, stattdessen finden sich im Drehbuch immer wieder herzliche, anrührende und leicht ironische Szenen.

Der Mann mit seinem Sohn lebt sehr abgeschieden. Eines Morgens fällt der Strom aus. Er geht zu mehreren Nachbarn, um mit deren Mobiltelefon die Netzbetreiber anrufen zu können. Als erstes trifft er auf ein altes Ehepaar, sie haben kein Telefon, dass sie ihm leihen könne, sie bitten ihn aber, für sie eine Nähnadel einzufädeln, weil sie zu schlecht sehen. Später kommt der Ingenieur zum Haus des Mannes. Würde er die Reparatur den offiziellen Weg gehen lassen, würde es mehrere Wochen dauern, doch er ist ergriffen von dem Mann und entscheidet sich, selbst aktiv zu werden. Dafür reist er durch die Gegend auf der Suche nach Ersatzteilen und trifft auf andere Menschen, die offensichtlich kein einfaches Leben führen. Sie kenne aber kein Selbstmitleid und überraschen einen mit einem ganz ungewöhnlichen Lebenswillen. Das zeigt sich beispielsweise in der Figur des Blinden, der die Gelegenheit ergreift, als der Ingenieur sich fälschlich zum ihm verirrt, ihn darum zu bitten, ihn mit dem Auto mitzunehmen, weil er eine Verabredung mit einer Frau hat.

Unweigerlich wird man an Abbas Kiarostamis WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? erinnert, in dem ein Junge eine Odyssee auf sich nimmt, um seinem Schulkameraden ein Heft zurückzubringen. Hier ist der Protagonist älter, genauso hartnäckig und verantwortungsbewusst. Auch SCENT OF WIND ist eine Parabel für Geduld und Hilfsbereitschaft.

THE POLICEMAN’S LINEAGE von Lee Kyumaan – In der Grauzone

Die Polizei ist in koreanischen Filmen ein beliebtes Motiv. Sie ist entweder zu tölpelhaft und kann von den Verbrechern leicht übers Ohr gehauen werden oder sie ist Teil eines größeren Korruptionskreises, in dem meist die Superreichen aus dem 1% der Bevölkerung die Fäden in der Hand halten. Oft sind Polizisten Helden mit leichten Schatten. Auch in THE POLICEMAN’S LINEAGE von Lee Kyumaan geht es um die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Verbrecher zu fangen, wenn man nicht bereit ist, einzelne Regeln dafür zu biegen. Wann heiligen die Mittel wirklich den Zweck?

THE POLICEMAN’S LINEAGE von Lee Kyumaan © BIFF 2022

Der junge Polizist Choi ist ein Idealist, bereits sein Großvater und Vater waren Polizisten. Als er gegen einen Kollegen aussagt, der bei einer Verhaftung gewalttägig geworden ist, fällt er bei den anderen Kollegen in Ungnade. Deswegen wird er versetzt, doch ausgerechnet zu Ermittler Park, dem die interne Ermittlung auf den Fersen ist, weil sie glaubt, dass er zwar vorgibt, gegen ein großes Drogenkartell vorzugehen, doch eigentlich selbst einer der Drahtzieher sei. Choi soll unerkannt über Park ermitteln und zu seinem Erstaunen wird er von diesem sofort als Protegé aufgenommen. Es stellt sich im Laufe der Zeit heraus, dass Park seinerseits Protegé von Chois Vater war, der im Dienst starb. Das Bild des Vaters wird später noch seine Kratzer abbekommen und Choi steht vor der Herausforderung, zwischen Schwarz oder Weiß auszuwählen oder sich einzugestehen, dass ein Polizist vielleicht doch in die Grauzone gehört, wenn er wirklich etwas bewegen will.

Der Film präsentiert mit den beiden Hauptdarstellern Cho Jin-woong als Park und Choi Woo-shik als Choi zwei gegensätzliche Typen, die solide spielen und den Film sehenswert machen. Doch darüber hinaus schafft es das Drehbuch nicht, mit Neuem aufzuwarten. Die meisten Elemente einer solchen Polizei-Heldengeschichte kennt man bereits gut. Und überhaupt ähnelt die Konstruktion sehr an die INTERNAL AFFAIRS-Reihe von Andrew Lau und Alan Mak aus Hong Kong. Leider fehlt Lees Film aber die dichte seiner Vorgänger, es stellen sich immer wieder Längen in den zweistündigen Film ein und auch ein paar Ungeschicklichkeiten, wenn es beispielsweise um die Rückblenden geht, die Choi als Kind mit seinem Vater zeigen.

THE BOYS von Chung Jiyoung – Fabrizierte Sündenböcke

Einen ganz anderen Sog entwickelt im Vergleich dazu THE BOYS von Chung Jiyoung, in dem auch um Korruption in den Reihen der Polizei und der Staatsanwaltschaft geht. Trotz der grundsätzlich hohen Spannung des Thrillers hätte auch dieser Film ein wenig kürzer sein können und es sind wieder die Rückblenden, auf die man für eine Straffung hätte verzichten können. Doch sie sind auch von den Autoren durchdacht, da sie als eines der vielen Mittel dienen, die Sympathie der Zuschauer für die Protagonisten zu untermauern. Tatsächlich ist es ein so spannender wie auch didaktischer Film. Es ist eine Anklageschrift gegen die Mächtigen, die ihre Macht missbrauchen und ein Plädoyer für den Zusammenhalt zwischen denen, die Unrecht erfahren haben.

Der Fall, der in THE BOYS verhandelt wird, ist ein echter, der sich in Korea, in einem kleineren Ort wirklich ereignete, nämlich zwischen 1999 und 2016. Drei Jungen wurden damals verhaltet, weil sie nachts ins Haus einer Familie einsteigen, die Bewohner knebeln, während sie nach Geld und Schmuck suchen und dabei die Großmutter stirbt. Nur ein Jahr nachdem die Polizei den Fall als abgeschlossen ansieht und die Ermittler daraufhin Karriere gemacht haben, kommt es zu neuen Ermittlungshinweisen, denen ein neues Ermittlerteam nachgehen will. Dessen Erkenntnisse sind eindeutig, doch der Polizeiapparat steht hinter den ursprünglichen Polizisten, weswegen die Bemühungen, die zu unrecht verurteilten Jungen freizubekommen, fehlschlagen. Erst 16 Jahre später bietet sich eine neue Chance dazu. Wieder droht es, zu scheitern.

THE BOYS von Chung Jiyoung © BIFF 2022

THE BOYS ist schnell geschnitten und aufwendig produziert. Er richtet sich eindeutig an ein breites Publikum, dafür spricht auch die Verwendung äußerst pathetischer Musik und die emotionale Botschaft, die mit allen Mitteln der Kunst in den formalen Mitteln vermittelt werden soll. Unter den Darstellern sind bekannte Namen, insbesondere der ältere Ermittler Hwang bekommt durch Sol Kyung-gu eine glaubwürdige Ausstrahlung. Da die Figuren sehr scharf zwischen Bösen und Guten getrennt sind, fiel es den Schauspielern in den „bösen“ Rollen sichtlich schwer, ihren Figuren Tiefe zu verleihen. Das zeigt sich vor allem bei Yoo Jung-sang, der Chefermittler Choi und bei Heo Sung-tae, der Staatsanwalt Oh spielt. Sie wirken zuweilen etwas karikaturhaft.

PEAFOWL von Byung Sung-bin – Paradiesvogel

Myung ist eine Transfrau, sie hat mit ihrer Familie gebrochen, weil diese sie nicht akzeptieren wollte. Trotzdem geht sie, auch wenn widerwillig, zur Beerdigung ihres Vaters und wird vom Onkel gleich genötigt, die Männertrauerkleidung anzuziehen. Der Ort ist sehr konservativ, der Vater hat sie seit Kind erniedrigt, der Onkel führt das nun fort. Wenn sie dabei hilft, die Gedenkfeier zu organisieren, die am 49. Tag nach dem Tod des Vaters stattfinden soll, bekommt sie ihr Erbe, eröffnet ihr der Schüler ihres Vaters. Geld braucht sie dringend für ihre Geschlechtsangleichendeoperation. Also lässt sie sich darauf ein. Der Vater war selbst im weiteren Sinn eine Art Tänzer, er war nämlich eine Art Schamane, der traditionelle koreanische Riten vollzogen hat und eine Tanzgruppe junger Leute führte.

Es sind sehr wichtige Themen, die in PEAFOWL verhandelt werden. Neben Traditionen, ist es die Familie und der Druck, ihr gerecht zu werden, auch wenn man für sich selbst einen anderen Lebensweg auswählt. Transsexualität oder Homosexualität findet selten Einzug in koreanische Filme. Doch hier ist alles etwas zu plakativ oder vielleicht besser gesagt, zu pädagogisch aufgezogen, sehr stark auf die größtmöglichen Kontraste ausgerichtet. Trotzdem hat der Film insbesondere in der Beziehung zwischen Myung und ihrer Tante eine sehr rührende Seite. Die Tante ist eine genauso tragische und gleichzeitig starke Person. Sie möchte für Myung und ihren homosexuellen Sohn da sein, doch ihr Umfeld unterdrückt sie. Myung trifft im kleinen ländlichen Ort ein, in dem alles seine festen Regeln hat, wie ein Paradiesvogel, ihre bunte Schminke, ihr langes, gewelltes Haar mit farbigen Strähnen, bringt das Gleichgewicht durcheinander. Darstellerin Hae-jun hat durchaus Charisma, auch wenn sie im Spiel noch ein paar Ungeschicklichkeiten aufweist. Entsprechend ihres auffälligen Aussehens hätte ein etwas zurückhaltenderes Auftreten eindrücklicher gewirkt.

BLUE AGAIN von Thapanee Loosuwan – Blautöne

Ay reist mit dem Bus nach Bangkok, um dort eine Ausbildung als Modemacherin zu machen. Man sieht ihr an, dass sie gewohnt ist, alleine zu sein. Sie ist ruhig und konzentriert, sie geht auf die Menschen nicht zu. Auch wenn diese, ganz im Gegenteil dazu, von ihr geradezu angezogen werden – nicht zwangsläufig auf eine positive Weise allerdings. Das liegt daran, dass Ay anders aussieht als die anderen. Sie hat einen kaukasischen Einschlag. Ihre Mutter ist Thailänderin aus dem Nordosten, ihr Vater, vermutlich ein Weißer. Dieser spielt aktiv keine Rolle in Ays Leben, bis auf die Tatsache natürlich, dass er ihr Aussehen mitgeprägt hat, das ihr in der thailändischen Gesellschaft so viele Schwierigkeiten bereitet. Die Hänseleien unter den Mitschülern sind primitiv, doch einschneidend, man stört sich an ihrer Größe oder an ihrer nicht schwarzen Haarfarbe, beispielsweise.

An sich bietet BLUE AGAIN einen faszinierenden Blick auf eine Gruppe Jugendliche, die alle versuchen, einen Platz im Leben zu finden. Jeder von ihnen hat andere Schwierigkeiten dabei, jede reagiert anders darauf. Das Drehbuch mäandert von einer Protagonistin zu andern, lässt sich Zeit, fängt bruchstückweise die Emotionen und Gefühle ein, die meist nur angedeutet sind. Die Figuren sind sich selbst unsicher, was sie genau empfinden. Es ist die Herausforderung des Erwachsenwerdens, die sie zu meistern versuchen. Ays Weg zur Frau ist mühsam, zwischendrin droht sie, auszubleichen. Genauso wie das Garn, das ihre Mutter mit Indigo-Farbe färbt.

BLUE AGAIN von Thapanee Loosuwan © BIFF 2022

Der Film hat viele interessante Ansätze, gibt einen eindrücklichen Einblick in eine Gesellschaft, die man so selten sieht und beschreibt darüber hinaus das Handwerk des Färbens sehr plastisch. Trotzdem wäre BLUE AGAIN durch eine Verdichtung des Stoffes unmittelbarer gewesen, es ist schwierig der Stimmung über drei Stunden hinweg zu folgen. So weist der Film ein paar formale Ungeschicklichkeiten auf, die Rhythmus und auch eine arg manierierte Kameraführung betrifft, doch die Darstellerinnen in den Hauptrollen sind allesamt bemerkenswert, insbesondere Tawan Jariyapornrung als Ay und Asamapon Samakphan als ihre Freundin Pair.

DREAM PALACE von Ka Sungmoon – Die Traumwohnung

Die Handlung spielt sich in einer neu gebauten Wohnhochhausanlage: DREAM PALACE. Der Name wird sich leider für die Bewohner nicht als gutes Omen erweisen. Die Streitereien unter ihnen gehen nämlich viel weiter als normale Reibereien zwischen Nachbarn. In Hyejung kulminieren schließlich alle Feindseligkeiten. Sie zieht mit ihrem heranwachsenden Sohn in die Wohnanlage. Doch gleich zu Beginn macht sie eine unangenehme Feststellungen: Aus den Rohren kommt rostiges Wasser. Der Bauunternehmer und Verwalter der Anlage sagt ihr, eine Reparaturanfrage werde es erst geben, wenn alle weiteren Einheiten verkauft worden sind, denn sonst müssten die Kosten auf die erst vorhandenen Eigentümer umgelegt werden und die seien sicherlich nicht einverstanden einen höheren Anteil zu tragen, als bei voller Besetzung.

Also gilt es daran, die restlichen Einheiten bald zu verkaufen, wenn sich für Hyeujung etwas ändern und sie nicht für immer mit Tonnen von Mineralwasser hantieren soll. Es gibt aber offenbar einen Grund, wieso sich die Wohnungen nicht so gut verkaufen. Darüber hinaus wehren sich die bisherigen Eigentümer, wortwörtlich mit Händen und Füssen dagegen, dass die restlichen Wohnungen zu einem tieferen Preis erworben werden können als sie bezahlt haben. Auch soll man keine zu offensive Werbung machen, denn das mindere seinerseits den aktuellen Preis der Anlage. Da sie alleine von dem Wasserproblem betroffen zu sein scheint und keine Hilfe von außen erwarten kann, setzt sich Hyejung aber über diese Ängste hinweg und wird als Werbeträgerin für die Wohnungen aktiv.

DREAM PALACE von Ka Sungmoon © BIFF 2022

Das ist eine Konstellation, die man im koreanischen Film recht oft sieht. Im Mittelpunkt steht eine existentielle Angst, das was man sich mühsam erarbeitet hat, könnte von anderen kleingeredet oder gar zerstört werden. Eigentum, das an Wert verliert, das ist eine Horrorvorstellung. Auch exemplarisch für eine Eigenschaft dieser Gesellschaft ist hier die Gruppendynamik, die im Film gleich auf mehreren Ebenen zum Tragen kommt. Die Bedürfnisse des Einzelnen, so berechtigt auch sein mögen, sollen denen des Kollektivs untergeordnet werden. Wehe wenn man daran erinnert wird, dass es irgendwo Probleme gibt. Irgendwann muss wieder Ruhe sein.

Das hat sich im übrigen äußerst eindrücklich im Fall des Sewol-Fährenunglücks gezeigt. Die Hinterbliebenen der Opfer hatten lange Zeit, nicht nur die moralische, Unterstützung der restlichen Gesellschaft. Irgendwann, da war immer noch nicht vom Staat Aufklärungsarbeit geleistet worden, was die Betroffenen forderten, kippte aber die Stimmung. Man griff die Protestierenden an, sie sollten sich endlich mit den angebotenen Wiedergutmachungen zufrieden geben, das Kapitel schließen. In DREAM PALACE mischt sich ein zweiter Handlungsstrang in die Geschichte, der parallele Beobachtungen erlaubt. In einem Unternehmen hat es einen Brand gegeben. Eine Gruppe Angehöriger der Opfer kämpft darum, dass die genauen Umstände aufgeklärt werden.

In der Beurteilung der Hauptfigur und der Dynamiken, die um ihre Handlungen entstehen, ist man zuweilen etwas überfordert. Die Reaktionen der anderen auf sie wirken überzogen, eigentlich kaum nachvollziehbar. Verurteilen würde man eindeutig eher die Handlungen der anderen. Hyejung wird von Darstellerin Kim Sunyoung herausragend gespielt, doch einige ihrer Kontrahenten fallen gar flach aus, so wie es bei Lee Yoonji beispielsweise der Fall ist.

IN OUR PRIME von Liu Yulin – Es ist schwer, ein Erwachsener zu sein

Der Film zeichnet ein ziemlich depressives Bild der chinesischen Gesellschaft. Auf allen Fronten kämpfen die Protagonisten gegen Einsamkeit, Verarmung und Krankheit. Im Mittelpunkt steht die alleinerziehende Yitian, die mit ihrem Sohn in Shenzhen und als Radiowettersprecherin arbeitet. Auch ihr Ex-Mann wohnt dort mit seiner neuen Frau. Dieser ist pleite, wahrt aber den Schein und leiht sich von Yitian Geld, obwohl sie eigentlich von ihm Hilfe bräuchte. Ihr gemeinsamer Sohn muss eingeschult werden, doch die Schulen in ihrem eigenen Wohnviertel sind nicht gut genug, deswegen will Yitian, dass ihr Mann ihr das einstige gemeinsame Haus in einem besseren Viertel überschreibt, nur pro forma. Die neue Frau ihres Manne ist allerdings nicht einverstanden. Sie ist auch nicht die einzige eifersüchtige Ehefrau, die es auf Yitian abgesehen hat. Da ist noch die ihres Freundes, die sich um keinen Preis von ihrem Mann scheiden lassen will, weil sie nicht erträgt, dass er eine neue Familie gründet.

IN OUR PRIME von Liu Yulin © BIFF 2022

Die chinesische Regisseurin Liu Yulin spielt in diesem Drama mit einem versöhnlichen Ende auch die Hauptrolle. Um Beziehungen, Einsamkeit und Nähe ging es bereits in ihrem Vorgängerfilm SOMEONE TO TALK TO. Die beiden Filme haben Ähnlichkeiten, sie sind beispielsweise formal recht konventionell mit einer satten Farbpalette und einer eher ruhigen Kameraführung. Doch IN OUR PRIME fehlt im Vergleich die Dichte in der Erzählung. Auch wirken einige Wendungen recht forciert. Der märchenhafte Ton, den der Film zum Teil einschlägt, kontrastiert mit der nüchternen Sicht auf die Verhältnisse. Schade ist, dass kaum Kontext für letztere angeführt wird. Ohne selbst über die gesellschaftliche Realität in China, über den Kontrast zwischen Stadt und Provinz, über die Stellung der Frau oder über die Schwierigkeiten für Kleinunternehmer in der neuen freien Marktwirtschaft, zu wissen, würde es schwerfallen, den Film einzuordnen.

ANCHOR von Jeong Ji-yeon – Hinter der Fassade

Sera Jung ist seit sieben Jahren Nachrichtensprecherin im Fernsehen. Sie ist beliebt bei ihren Vorgesetzten und Zuschauern, weil sie so makellos zu sein scheint, so professionell. Ihre Mutter verfolgt jede ihrer Sendungen ganz genau und hat immer etwas zu kritisieren. Sie war selbst auch einst in diesem Beruf tätig und hat hohe Ansprüche an ihre Tochter. Es ist spürbar, wie Sera das unter Druck setzt. Dazu kommt, dass im Sender einige junge Kolleginnen gerne an ihre Stelle rücken möchten. Eines Abends, kurz vor Sendungsbeginn, erhält Sera den Anruf einer Frau, die sagt, sie und ihre Tochter würden zuhause bedroht. Sie soll schnell kommen und sofort berichten. Auch wenn Sera den Anruf erst als einen Streich abtut, lässt sie die Sache nicht los und sie besucht in der Nacht die Adresse, die ihr die Frau genannt hat. Dort findet sie ein totes Kind und die Frau, die sich erhängt hat. Dieser Fund löst bei ihr ein Trauma aus und sie wird von Wahnvorstellungen heimgesucht.

ANCHOR von Jeong Ji-yeon © BIFF 2022

Was als Kriminalgeschichte beginnt, entwickelt sich immer mehr zum Horrorfilm. Der Film ist stimmungsvoll und wartet mit einigen unerwarteten Wendungen auf. Gespielt ist er sowohl von Chun Woo-hee in der Hauptrolle als auch von Shin Ha-kyun, der einen etwas mysteriösen Psychiater verkörpert, souverän. ANCHOR ist spannend und funktioniert als in sich abgeschlossener Genrefilm. Gleichzeitig greift er wichtige gesellschaftliche Themen auf. Die koreanische Regisseurin Jeong Ji-yeon, die bereits in ihren früheren Werken die Dynamiken in Familien in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt hat, erzählt mit ANCHOR von einer destruktiven Mutter-Tochter-Beziehung. Es geht zudem um psychische Krankheit, gesellschaftlichen Leistungsdruck oder auch die Schwierigkeiten des Mutterseins.

A LETTER FROM KYOTO von Kim Minju – Erinnerungen

Yeongdo ist ein Stadtteil von Busan. Dort lebt eine ältere Frau mit zwei ihrer Töchter, die mittlere ist in Seoul und arbeitet als Autorin. Sie kommt nach Hause, weil sie angeblich ein paar freie Tage habe und das bringt die Routine in der Familie durcheinander. Die ältere Tochter arbeitet in einem Accessoires-Geschäft, die jüngere trainiert für einen Hip Hop-Tanzwettbewerb. Zwischendrin ist die Mutter, die Zeichen von Verwirrung aufweist und tatsächlich stellt man bei ihr eine beginnende Demenz fest. In den Sachen der Mutter finden die Töchter Briefe auf Japanisch und erfahren, dass die Mutter in Kyoto geboren wurde. Als Kind eines koreanischen Vaters und einer japanischen Mutter hatte sie es in der Kindheit in Korea schwer, weil man damals offen Japanischstämmige diskriminiert hat. Bevor sie alles vergisst, möchten die Töchtern, der Mutter ein letztes Mal eine emotionale sowie physische Reise in ihre zweite Heimat gewähren.

A LETTER FROM KYOTO kommt ganz ohne sensationalistische Wendungen auf. Auf realistische Weise erzählt er von den Dynamiken zwischen Geschwistern und zwischen Eltern und ihren Kindern. Für die koreanische Regisseurin Kim Minju handelt es sich um den ersten Langspielfilm. Sie hat dafür ein eindrückliches Ensemble von nur weiblichen Schauspielerinnen gewonnen, die miteinander harmonieren.

NEXT SOHEE von July Jung © BIFF 2022

NEXT SOHEE von July Jung – Gefangen im System

Sohee beginnt eine Stelle in einem Call Center, das den Kundendienst für einen Internetanbieter leistet. Die Bedingungen sind hart, zwischen kleinen Abzügen am Gehalt hier und da, Leistungsranglisten, Zeitdruck und unverschämten Kunden. Wer selbst schon einmal dieser Arbeit nachgegangen ist, weiß, dass das beschriebene Umfeld mehr als realistisch dargestellt wird. Vielleicht nicht bis zu dem Punkt, dass sich jemand durch den Druck, der hier entsteht das Leben nimmt. Doch die Arbeitsmoral in Asien ist nunmal eine andere.

Sohee versucht sich zu wehren, doch die Angst der anderen sich aufzulehnen, als unzulänglich zu gelten, sich in der Gesellschaft unbeliebt zu machen, weil sie nicht stark genug sind oder als faul gelten könnten, ist größer. Es ist ein Gruppenzwang zu beobachten, der das Aufbegehren des Einzelnen im Keim erstickt. Für Ermittlungen und Strafverfolgung ist es auch schwer, solange Unternehmen Mitarbeiter Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben lassen, und ihnen sonst mit Repressalien drohen. Auch hat es in Korea Tradition, dass man einfachere bis auch komplexere Konflikte unter sich ausmacht, Unternehmen bieten beispielsweise Schadenersatz, wenn man sich außergerichtlich einigt. Selbst Mord oder Totschlag lässt sich in der Regel auf diese Weise klären, vorausgesetzt man verfügt über genügend Vermögen. Das Gesetz greift natürlich trotzdem, aber erlaubt diese Nebenregelung, die die Strafe für die Betroffenen mildert. Dieses Thema kommt in vielen koreanischen Filmstoffen vor.

Die Konditionen auf dem Arbeitsmarkt werden, vor allem in den letzten Jahren, auch öfters aufgegriffen. So war die Serie MISAENG (auf Netflix), die die Bedingungen in einem großen Unternehmen, das mit Samsung oder Lotte verglichen werden könnte und Teil der koreanischen Identität ist, aufzeigt, ein großer Erfolg. Genauso wie die Serie verfällt auch der Film der jungen koreanischen Regisseurin July Jung nicht der Versuchung, einfache Lösungen zu bieten. Ein Wandel braucht seine Zeit – möchte man den überhaupt. NEXT SOHEE ist an sich eine spannend erzählte Geschichte, die stellenweise einem Thriller gleichkommt. Die Charakterzeichnung aller Figuren ist differenziert, anrührend und formt nach und nach ein äußerst depressives Bild der aktuellen koreanischen Gesellschaft, die sich aber auch in unserer eigenen spiegelt, wenn es um Zivilcourage oder das Aufrechterhalten von ausbeuterischen Systemen geht.

THE WIND WILL SAY von Wei Renai Yongyao – Missverständnisse

Icy und ihr Freund kommen aus London zurück nach China, wo sie fortan leben und arbeiten wollen. Auf dem Weg nach Shanghai besuchen sie Icys Eltern, die geschieden sind. Ihr Vater holt die beiden beim Bahnhof ab, Icys Freund wurde geschlagen, sein Koffer gestohlen, darin befanden sich die Abschlussdiplome der beiden. Fortan versucht der Vater alles, um diesen Koffer wiederzufinden und begibt sich in ernste Gefahr.

Es ist eine recht spanende Geschichte, die hier der chinesische Regisseur mit Schauplatz Shenzhen erzählen will. Doch sie wirkt an vielen Stellen künstlich aufgebläht. Dieser Eindruck verfestigt sich durch die ziemlich manierierte Form. Viele Szenen sind für die Handlung überflüssig, dienen nur der Erzeugung von Stimmung. Doch will das nicht richtig gelingen. Vielmehr wirkt es so, als habe der Regisseur versucht, möglichst viele Bildtechniken auf einmal auszuprobieren, sei es Lichtreflexe auf Scheiben, Aufnahmen unter Wasser oder umfangreiche Kamerafahrten über Details einer bunten Wanddekoration.

THE WIND WILL SAY von Wei Renai Yongyao © BIFF 2022

Interessant in THE WIND WILL SAY ist vor allem die Figur des Vaters, die vom taiwanesischen Schauspieler und Regisseur Lee Kang-Sheng gespielt wird. Lee ist zuletzt in DAYS von Tsai Ming-liang aufgetreten, wo er bereits sein Charisma unter Beweis gestellt hat. In THE WIND WILL SAY weist seine Figur eine Mischung aus kindlich-naiver Neugier, verbissener Entschlossenheit und liebevoller Vaterliebe auf. Lees Leistung allein macht den Film bereits sehenswert.

FEAST von Brillante Mendoza – Familienessen

Die Handschrift des philippinischen Regisseur Brillante Mendoza erkennt man unter anderem an seiner sehr subjektiven Handkamerästhetik und einer naturalistischen Bildsprache. Seine Themen zieht er oft aus dem Kontrast zwischen den Sozialklassen und vielfach geht es um Individuen, die eigentlich alles tun, um in ihren bescheidenen Mitteln durchs Leben zu kommen, aber vom Schicksal dabei eingeholt werden. Sein neuer Film spielt außerhalb der Hauptstadt Manila in einer ländlichen Gegend. Alle bereiten sich auf die Ausrichtung eines großen Festes vor, es werden die letzten Lebensmittel eingekauft, auf die die Frauen zu Hause warten, damit sie sie zubereiten können. Auch Rafael und sein Vater sind mit der Wagen unterwegs. Auf dem Rückweg erhalten sie einen Anruf von Rafaels Tochter, die im Ausland lebt. Dabei kommt es zu einem kurzen Moment der Ablenkung und es ereignet sich ein Unfall. Sie stossen mit einem Moped zusammen, auf dem ein Vater mit seiner Tochter ebenfalls Einkäufe transportiert. In Panik setzt sich Rafaels Vater auf den Fahrersitz und sie verlassen den Unfallort. Nach einem ersten Schockmoment steht für sie aber fest, dass sie sich ihrer Verantwortung stellen werden.

Es gibt niemanden, den man in dieser Geschichte verurteilen könnte. Alle handeln im Wesentlichen vernünftig und wollen sich gegenseitig nichts Böses. Deswegen finden sie auch einen Weg des Miteinanders und nicht des Hasses. Gespielt ist FEAST herausragend, aufgenommen genauso. Es entsteht ein dynamisches, buntes Bild, in dem Essen eine große Rolle spielt. Es steht als Symbol für das, was die Menschen verbindet, darüber finden sie Trost. Mendoza situiert seinen Film in eine streng christliche Gesellschaft, weswegen er sich auch liturgische Rituale, in denen es um Schuld und Sühne geht zu nutze macht. Sie unterstreichen das Melodramatische des Films, das zuweilen doch arg pathosgeladen ist. Anders als Mendozas MA’ROSA beispielsweise fehlt FEAST deswegen eine zweite Ebene, die über die rein emotionale hinausgeht.

DECEMBER von Anshul Chauhan – Wie viel wiegt mein Schmerz?

Wo endet Gerechtigkeit und wo beginnt Rache? Das Gesetz kann nicht zur Genugtuung eines Einzelnen dasein. Vor sieben Jahren wurde die Tochter von Katsu und Sumiko von einer Mitschülerin ermordet. Der Anwalt der Täterin geht jetzt gegen das damals, seiner Meinung nach, zu harte Urteil vor. Es soll gar nicht an der Schwere der Tat gerüttelt werden, doch hervorgebracht werden, dass mildernde Umständen nicht berücksichtigt und fälschlicherweise nicht das Jugendstrafrecht angewandt wurden. Für Katsu ist es unvorstellbar, dass die Mörderin seiner Tochter freikommen soll, für ihn müsste sie mit dem Tod bestraft werden. Er will alles tun, um vor Gericht gegen die Mörderin auszusagen. Sumiko, die sich von ihm hat scheiden lassen und wieder geheiratet hat, lässt sich erst zögerlich wieder auf ihn ein, dann kommt sie zu einem ganz anderen Schluss als er.

Der indische Regisseur Anshul Chauhan hat schon mehrfach Filme gedreht, die sich mit der japanischen Gesellschaft beschäftigen. Er hat mit DECEMBER ein stimmungsvolles Kammerspiel geschaffen, das wichtige ethische Fragen aufwirft und die menschliche Natur in ihren verschiedenen Grautönen beschreibt. Ein wenig übertrieben ist dabei vielleicht die Darstellung der Alkoholsucht des Vaters, der von Shogun, der in Brillante Mendozas Boxerdrama GENSAN PUNCH die Hauptrolle übernommen hat, gespielt wird.

HAIL TO HELL von Lim Oh-jeong – Die Hölle ist überall

Na-mi und Sun-woo sind beide Opfer von Hänseleien und Belästigungen ihrer Mitschülerinnen. Sie halten es nicht mehr aus und wollen Selbstmord begehen, doch der Versuch scheitert. Stattdessen möchten sie erst Rache an Chae-rin nehmen, die ihnen besonders zugesetzt hat und jetzt offenbar ein schönes Leben in Seoul lebt. Sie suchen sie also auf und finden heraus, dass diese in einer religiösen Gemeinschaft ist, die sie angeblich zu einem besseren Menschen gemacht hat. Erst sind sie skeptisch, doch dann stellen sie immer mehr fest, dass es sich hier um eine Sekte handelt, die alles andere als altruistisch mit ihren Mitgliedern umgeht.

Der Film greift Themen wie Läuterung, Glaube, Freundschaft und Gewalt auf. Dabei unterscheidet sich die Sphäre der Jugendlichen nicht von der der Erwachsenen. Habgier, Eifersucht und Minderwertigkeitskomplexe bestehen bei beiden. Auf eine einfache Lösung läuft die Handlung nicht hinaus, ganz im Gegenteil weist sie auf einen Teufelskreis hin. Ein wenig hoffnungsvoll endet der Film aber dennoch. Die koreanische Regisseurin hat mit diesem ihrem Spielfilmdebüt bereits die Messlatte sehr hoch gelegt. Sie erzählt präzise, hat Sinn für Rhythmus und auch für Ironie. Ihre Figuren sind vielseitig und keine simplen Abziehbilder, die sie in Opfer und Täter einteilt.

HONG KONG FAMILY von Eric Tsang Hing Weng – Der erniedrigte Familienvater

Die erste halbe Stunde von HONG KONG FAMILY verspricht leider viel mehr als der Film schließlich leisten kann. Die Figuren werden eingeführt, präzise und bereits in einem bissigen ironischen Tonfall. Es geht um die titelgebende Familie. Sie besteht aus Vater, Mutter, Tochter und Sohn. Zu Beginn des Films steigen sie gerade ins Auto, um zur Großmutter, der Mutter der Mutter zu fahren und ihren Geburtstag zu feiern. Der erste Streit bricht vom Zaun als der Mann den Korb mit Gebäck auf dem Schoss halten möchte, damit er während der Fahrt nicht im Kofferraum ausläuft, die Frau ihn aber trotzdem in den Kofferraum stellt. Dann geht es darum, dass der Mann keine Arbeit hat und sich nach der Vorstellung seiner Frau sich nicht genug bemühe, um einen neuen zu finden und überhaupt zu wenig mache.

Bei der Großmutter angekommen, geht es dann nahtlos weiter. Erst streitet der andere Sohn der alten Frau mit seiner Mutter, weil diese ihm unterstellt, Geld von ihr gestohlen zu haben und er rennt wütend davon, dann schreien sich die Eheleute an, weil der Mann sich nicht um die Frau kümmere, die sich in den Finger geschnitten habe. Sie droht mit Scheidung, bei ihm brennen die Sicherungen durch und er droht ihr mit einem Messer in der Hand. Das bedeutet der Bruch zwischen Vater und Sohn, der dem Vater diese Szene nicht mehr vergeben kann und deswegen von zu Hause wegläuft.

Um Ehre, Opferbereitschaft und Familie geht es in diesem Drama aus Hong Kong. Leider reicht weder das Spiel, das stellenweise doch recht amateurhaft wirkt, noch die Dichte der Handlung an den so vielversprechenden Anfang heran. Die Geschichte zieht sich in die Länge, sie wird sehr sentimental und so richtig gut motiviert kommt sie einem auch nicht vor. Den Streit zwischen Vater und Sohn kann man nur bedingt nachvollziehen. Der Sohn nimmt für die Mutter blind Partei und vernachlässigt gänzlich, dass sie keineswegs das Opfer in dieser Sache ist.

GREENHOUSE von Lee Sol-hui – Es ist schwer, glücklich zu sein

Moonjung versucht, alles richtig zu machen. Sie sucht sich professionelle Hilfe für ihre psychische Krankheit, arbeitet bei einem älteren Ehepaar und bereitet ein Heim für sich und ihren Sohn vor, der bald aus dem Jugendgefängnis entlassen werden soll. Doch dann kommt es zu einem Unfall, die ältere Frau, stürzt und schlägt sich den Kopf auf. Was sie dann tut, löst eine tragische Kettenreaktion aus.

GREENHOUSE ist der erste abendfüllende Spielfilm der koreanischen Regisseurin. An sich ist die Geschichte, die sie hier erzählt ein wenig dünn, doch die Psychologie der Protagonistin ist sorgfältig entwickelt. Ihre psychische Krankheit wird nicht übertrieben, nicht moralisiert. Auch für ihre Handlungen bringt man als Zuschauer Verständnis auf, obwohl einem Moonjung bis zuletzt fremd bleibt. Der Film wahrt bewusst eine gewisse Distanz zu ihr. Es gibt keine Bösen in dieser Geschichte, nur Menschen, die sich bemühen, in ihrem Kleinen glücklich und nützlich zu sein.

BIG SLEEP von Kim Taehoon – Zwei Außenseiter

Kiyoung ist ein mürrischer Einzelgänger. Er schleppt täglich Kisten, ohne viel zu verlangen. Sonst kümmert er sich um die vielen Pflanzen, die ihm seine Mutter hinterlassen hat und bringt der neuen Frau seines Vaters ab und zu Geld. Vor seinem Haus hat sich ein offenbar obdachloser Junge einen Schlafplatz gesucht. Kiyoung lässt ihn bei sich übernachten. Aus der einen Nacht werden es mehr. Die beiden freunden sich langsam an. Das Gefühl verloren zu sein und die undefinierbare innere Wut, die der Junge in sich hat, kennt auch Kiyoung.

BIG SLEEP ist das Regiedebüt des Koreaners Kim Taehoon. Es handelt von Zusammenhalt, von Einsamkeit und von einer Gesellschaft, die sich oft mit oberflächlichen Betrachtungen zufrieden gibt. Der Film erzählt von vernachlässigten Jugendlichen, deren Selbstwertgefühl von niemandem gestärkt wird und die sich deswegen in abenteuerlichen, kriminellen Aktionen austesten und bewähren wollen. Sie werden dennoch nicht als Opfer gezeichnet. Kiyoung bietet dem einen Jungen eine Alternative, zwingen kann er ihn aber nicht. Die Auseinandersetzung miteinander lässt aber trotzdem wachsen. Das Drama ist ruhig inszeniert, verzichtet auf dramatische Wendungen und hat in den beiden Hauptrollen mit Kim Youngsung und Choi Joonwoo zwei ausdrucksstarke Darsteller gefunden. In der Stimmung erinnert der Film ein wenig an BREATHLESS von Yang Ik-june, in dem ein einsamer Geldeintreiber auf ein junges Mädchen trifft und sich mit ihre anfreundet. Ganz so dicht und nachhaltig eindrücklich ist BIG SLEEP dann aber doch nicht.

HIGHWAY FAMILY von Lee Sangmoon – Familienzusammenhalt

Sie leben an Autobahnraststätten, übernachten in einem Zelt, schnorren die Autofahrer um etwas Kleingeld, waschen sich in der öffentlichen Toiletten. Für die beiden Vorschulkinder ist alles ein Abenteuer. Doch die Mutter ist hochschwanger mit dem dritten Kind und bei der Polizei gehen immer mehr Anrufe von Personen ein, die sich über die Betrugsmasche des Familienvaters beschweren. Eine von ihnen ist die Besitzerin eines Ladens für Möbel aus zweiter Hand. Sie trägt dazu bei, dass der Vater, der bereits wegen eines größeren Betrugsfalls gesucht wird, verhaftet wird. Weil sie Mitleid mit der Frau und den Kindern hat, holt sie sie zu sich.

Das Drama ist das Spielfilmdebüt des koreanischen Regisseurs Lee Sangmoon. Er hat einen gute Mischung zwischen Tragik und auch leichtfüßigeren Elementen gefunden. Die beiden Kinder spielen erstaunlich differenziert und sonst fallen vor allem die Leistungen von Ra Mi-ran, die die Unternehmerin spielt, und Jung Il-woo als von der Gesellschaft angewiderten Familienvater, auf. Die Stärke des Films ist es, dass die Geschichte nicht darauf aus ist, bei den Protagonisten eine Läuterung herbeizuführen. Entsprechend kommt es auch nicht zu einer moralischen Verurteilung ihrer bisherigen Entscheidungen. In HIGHWAY FAMILY geht es um Solidarität und Familie und dass Familie nicht unbedingt aus Mitgliedern aus dem gleichen Blut besteht, sondern auch eine Willensgemeinschaft sein kann.

STAR OF ULSAN von Jung Kihyuk – Arbeiterklasse

Yunhwa arbeitet in einer Werft in Ulsan, nachdem ihr Mann vor Jahren gestorben ist, genau bei dieser Arbeit, die eben durchaus gefährlich sein kann, wie es auch Yunhwa immer wieder erfahren muss. Kurz nachdem sie sich die Hand an einer Maschine verletzt hat, wird ihr auch noch mitgeteilt, dass sie gekündigt wird. Um die Stelle doch noch zu behalten, will sie dem Chef ein Geldgeschenk machen, doch ihr Sohn hat das Haus bereits mit einem Kredit beliehen, um es in Bitcoins zu investieren. Als sie ihn auffordert, es zurückzuholen, muss dieser feststellen, dass er sich verschätzt hat, das Geld ist weg. Zu allem Überfluss ist auch Yunhwas Schwager mit Frau und erwachsenem Sohn zu Besuch. Sie kommen, um den Todestag ihres Ehemanns gemeinsam zu verbringen, doch die Familie hat eigentlich ein anderes Anliegen: Sie wollen, dass Yunhwa sich von einem gemeinsamen Erbe zurückzieht.

Im Mittelpunkt des Spielfilmdebüts des koreanischen Regisseurs Jung Kihuyk steht eine starke Frau, die mit ihrer ungehobelten Art, die Menschen um sich herum verunsichert, abstösst. Doch innerlich ist sie müde und ängstlich, lastet doch das Überleben ihrer Familie auf ihren Schultern. Gespielt wird Yunhwa eindrücklich mit viel Charisma von Kim Geum-soon, die sich mit einer großen Körperlichkeit einbringt. Der Film erzählt von Personen, die nicht miteinander kommunizieren können, die aber eigentlich viel gemeinsam hätten, ähnliche Sorgen, ähnliche Ängste teilen würden. Selten hat man zudem einen solchen ausführlichen Einblick in die Arbeitswelt der Schiffsbauindustrie erhalten, die, so sagt es einmal eine Figur im Film, „einst das Rückgrat der koreanischen Wirtschaft war“.

OPEN THE DOOR von Chang Hangjun – Verzweiflung

Chi-hoon lebt in den USA. Seine Mutter wurde von einem Räuber getötet, er ist noch traumatisiert. Er betrinkt sich mit seinem Schwager. Dabei kommt das Gespräch auf die Schwester, die Chi-hoon gesagt hat, dass sie von ihrem Mann geschlagen werde. Der Schwager reagiert aufgewühlt und es platzt aus ihm heraus. Hat die Schwester ihren Mann beauftragt, die Mutter zu töten? Doch weswegen. Nach und nach glaubt man dem Schwager, dass die Schwester wohl doch nicht ganz unschuldig ist, wie der Bruder meint. Tatsächlich entpuppt sie sich als eine echte Lady Macbeth. Alles dreht sich um Geld oder vielmehr die Tatsche keins zu haben.

Faszinierend ist die Form des Thriller-Dramas, die der eines Theaterstücks gleicht und in einzelnen Kapiteln oder Akten eingeteilt ist. Das Kammerspiel entwickelt einen bemerkenswerten Sog, nach dem sich die Geschichte zu Beginn erst etwas hin und die Handlung voraussehbar erscheint. Verrat, Verzweiflung und Habgier kommen hier zusammen. Was ist man bereit zu tun, für das eigene Überleben? Welche Linie überschreitet man aus Liebe zu einem anderen? Es ist spannend wie der koreanische Regisseur mit reduzierten Mitteln, zu denen ein paar Rückblenden gehören, aber vor allem die präzise Konzentration auf Raum und Zeit, eine spannende Geschichte erzählt. Im letzten Kapitel, in dem die Protagonisten die jüngste Version ihrer Figuren darstellen, ist das Spiel ein wenig holprig und die Handlung etwas kitschig, bemüht eine Idylle aufzuzeigen, von der man am Anfang des Films weit entfernt ist. Darauf hätte man für ein eindrückliches Gesamtbild verzichten können.

A MAN von Ishikawa Kai – Vererbung von Schuld

Ein Mann kommt in eine Kleinstadt und heiratet dort die junge geschiedene Frau, die bereits einen Sohn hat. Alle glauben, dass er Daisuke, der Erbe einer gutgehenden Pension in Tokyo, ist und sie verstehen nicht, weswegen er sich jetzt lieber Forstarbeiten zuwendet. Einige sind skeptisch, doch dann schließen sie den ruhigen Mann ins Herz. Die neue kleine Familie verbringt drei schöne Jahre zusammen, dann stirbt der Mann bei einem Arbeitsunfall. Zu diesem Zeitpunkt kommt heraus, dass er nicht der ist, für den er sich ausgegeben hat. Seine Frau beauftragt einen Anwalt damit, nach der wahren Identität des Mannes zu suchen.

Ein Mann tauscht seine Identität mit die eines anderen, weil er darunter leidet, dass er der Sohn eines zum Tode verurteilten Mörders ist. Die Gesellschaft setzt ihn deswegen auch unter Druck. Der japanische Regisseur zeigt ein Japan, das man so unverblümt diskriminierend und fremdenfeindlich selten sieht. Ein Thema sind dabei die noch immer existierenden Ressentiments gegenüber Menschen koreanischer Herkunft. Während der Okkupation Koreas durch Japan sind viele Koreaner nach Japan gekommen, sehr viele dahin verschleppt und versklavt worden, einige sind geblieben.

In einer derart strengen Gesellschaft ist es auch für andere, die nicht einen linearen Lebensweg vorweisen können, nicht einfach. So trägt man als Kinder die Fehler der Eltern nach. Um Diskriminierung, Vorverurteilung aber auch auf der anderen Seite um bedingungslose Zuneigung und Vertrauen geht es in diesem wie ein Krimi aufgebauten Drama. Die Charakterzeichnung ist differenziert, was dafür sorgt, dass jeder der Protagonisten seine faszinierende Seite hat. Insbesondere die Figur des Anwalts berührt einen nachhaltig.

WALK UP von Hong Sang-soo – Der Regisseur

Ein Regisseur, der Preise gewonnen hat, besucht mit seiner erwachsenen Tochter eine alte Freundin. Da diese Inneneinrichterin ist und die Tochter auch gerne den gleichen Beruf aufnehmen will, will er sie miteinander bekannt machen. Die beiden Erwachsenen haben sich offenbar Jahre nicht gesehen, Vater und Tochter genauso. Alles ist ziemlich verkrampft. Sie versichern sich ständig gegenseitig, wie gut es ihnen ergangen ist, wie zufrieden sie sind. Dann verabschiedet sich der Regisseur plötzlich zu einem dringenden Termin, sagt er käme in maximal einer Stunde wieder und lässt die Tochter zurück. Nach der zweiten Flasche Wein lockern sich bei den beiden Frauen die Zungen, was nicht unbedingt zu einem besseren Verständnis zwischen ihnen führt.

Eine gewisse Zeit später: Der Regisseur kommt dieses Mal alleine und zu Fuß. Im Haus stösst die Besitzerin des Restaurants im zweiten Stock zu ihnen. Es fließt wieder Wein. Sie reden über seine Filme. Sie seien perfekt anzusehen, während man dabei trinkt. Man spreche viel in seinen Filmen, so fühle man sich beim Schauen nicht alleine.

Wie in Hongs Filmen üblich, redet man auch in WALK UP viel, mehr macht man nicht, außer trinken. Dieses Mal ist es Wein und nicht Soju. (Auch wenn es später zur Diskussion kommt, dass Soju doch besser ist als Wein.) Er ist genau so effektiv, die Hemmungen der Anwesenden zu reduzieren. Über Persönliches redet man trotzdem nur über Metaphern. Und die auffälligste ist natürlich, dass Hong hier seine eigentliche künstlerische Arbeit reflektiert. Wie ernst soll man sich und sein Werk nehmen?

In der ersten Episode hat der Regisseur einen alten Mini. Jules, der Mitarbeiter der Frau, hat noch nie so einen Wagen gesehen. „Es ist alt, aber sauber“, meint er. Auf den Straßen Koreas, zumindest in den Städten, sieht man tatsächlich kein Auto, das älter als 5 Jahre alt ist und alle sind viertürig. Die meisten Wagen wirken eher wie fabrikneue Luxuswagen. Dass alle getönte Scheiben haben, verstärkt diesen Eindruck.

Im dritten Teil des Films fährt ein neuer Mini vor. Mittlerweile lebt der Regisseur im Haus, zusammen mit der Köchin. Sie ist unzufrieden, sie möchte gerne mit ihm ins Ausland reisen, doch er hat die Einladung persönlich für eine Retrospektive anwesend zu sein, abgelehnt. Und dann ist die Frau im letzten Teil nicht mehr da. Der Regisseur lebt nun im Dachgeschoss.

WALK UP ist ein typischer Hong Sang-soo-Film in der Form und in diesem Fall besonders selbstreflektiert. Ist es eine Ankündigung, dass sich der Regisseur bald zur Ruhe setzen will?

THE RIPPLE von Lim Seughyun – Tiefe Schuld

Die Enkelin von Yebun ist im Fluss ertrunken, nachdem sie auf einer Kanufahrt war. Sie macht sich große Vorwürfe, weil sie sie an diesem Tag betrunken von sich gestossen hatte. Seitdem sucht sie mit einem Metalldetektor täglich den Fluss ab. Als einzige Bezugsperson hat Yebun ihre beste Freundin Okim, doch die stirbt an Krebs und hinterlässt eine Enkelin, die sonst niemanden hat und die auch die beste Freundin von Yebuns Enkelin ist. Beide brauchen einander, sie müssen aber erst mit ihrem jeweiligen schlechten Gewissen zurechtkommen, bevor sie sich umeinander kümmern können.

Die Hauptdarstellerin Kim Jayeong ist immer dann am besten, wenn sie möglichst wenig macht. In einigen überemotionalen Szenen, beispielsweise im betrunkenen Zustand, wirkt ihr Spiel nicht ganz so souverän. Die Geschichte dreht sich um Fragen von Schuld und Trauer. Die Protagonistin ist davon wie gelähmt, mechanisch geht sie jeden Tag mit ihrer Suche im Fluss einem Ritual nach. Es braucht viel Kraft dafür, diesen Teufelskreis aufzubrechen. An sich hat THE RIPPLE, dessen Titel, kleine Welle, sich auf den Fluss bezieht, der Leben und Tod gleichzeitig bedeutet, eine einfühlsame Handlung, die für mehr Verständnis füreinander plädiert und für eine erweiterte Definition von Familie.

THOUSAND AND ONE NIGHT von Kubota Nao – Das lange Warten

Tomikos Ehemann ist vor 30 Jahren verschwunden. Sie wartet immer noch auf ihn. Ein Jugendfreund von ihr möchte sie gerne heiraten, doch sie wehrt in ab. Auch eine temporäre Partnerschaft, solange der Mann nicht zurückkommt, kommt für sie nicht in Frage. Eines Tages sucht sie eine andere Frau auf, deren Ehemann auch verschwunden ist und die von Tomiko in ihrer Suche unterstützt wird. Dieser Mann ist seit zwei Jahren weg, seine Frau zögert ebenfalls sich auf ein neues Leben einzulassen, doch sie ist anders als Tomiko.

Der zweite Langspielfilm des japanischen Regisseurs gewann in Busan den Fipresci-Preis. Begründen lässt sich diese Auszeichnung einerseits durch die souveräne schauspielerische Leistung der beiden Frauen, nämlich Tanaka Yuko als Tomiko und Ono Machiko als Nami. Andererseits ist die Geschichte sehr melodramatisch und sehr depressiv. Sie spricht dennoch wichtige gesellschaftliche Themen auf, die nicht spezifisch japanisch sind, sondern universell, da sie die Sorgen und Sehnsüchte unserer Zeit widerspiegeln.

ZWIGATO von Nandita Das – Gefangen in den Sternebewertungen

Manas hat eine Stelle als Lieferkurier beim Unternehmen Zwigato angenommen, um seine Familie zu ernähren. Die App, die seine Arbeit koordiniert, bringt den Familienvater immer wieder zur Weißglut. Kurze Verspätungen werden mit automatischen Abmelden bestraft, das Verlassen des zugewiesenen Quartiers bringt weitere Sanktionen und einen Bonus gibt es erst, wenn er mindestens zehn Lieferungen am Tag geschafft hat. Doch das ist absolut unrealistisch. Gleichzeitig möchte auch seine Frau zum Unterhalt der Familie beitragen und bewirbt sich als Reinigungskraft. Manas ist aber dadurch in seiner männlichen Ehre verletzt.

Trotz der Härte der beschriebenen Umstände findet der Film immer wieder zu humorvollen Einzelszenen. Diese begründen sich zum Beispiel aus dem Automatismus der App, der der Protagonist ausgeliefert ist. Auch kommt es systematisch zu Reibungen zwischen den verschiedenen Sozialklassen, die im ersten Moment absurd wirken, bei einem zweiten Hinsehen aber zur Erkenntnis führen, wie schwer, diese alten, konservativen Strukturen zu überwinden sind. Einmal sagt die Managerin von Zwigato, dass das Unternehmen ein Bespiel der Toleranz sei. Angestellt würden alle, egal welcher Kaste sie einst angehörten. Nur besteht hier natürlich auch eine Hierarchie, die durch ein digitales Bewertungssystem aufrecht erhalten wird. ZWIGATO ist das Bild eines zeitgenössischen Indiens, das krampfhaft versucht, an einer Idee der Moderne heranzukommen, für die das Individuum die Verantwortung übernehmen soll. Der Staat hat sich insofern aus der Affäre gezogen, als es das Kastensystem offiziell als abgeschafft erklärte, aber die nötigen Strukturen, dies aufzufangen nicht schafft. Der dritte Spielfilm der indischen Regisseurin Nandita Das ist ein weiteres Beispiel dafür wie schnell sich der zeitgenössische Film aus Indien zu einem engagierten und künstlerisch anspruchsvollen Filmschaffen entwickelt hat.

B FOR BUSY von Shao Yihui – In the mood for love

Herr B lebt in Shanghai in einem wohlhabenden Quartier. Er ist Kunstlehrer und leidenschaftlicher Koch. Er ist geschieden, genauso wie Frau Li, die nach der Scheidung von einem Briten mit ihrer Tochter wieder bei ihrer Mutter eingezogen ist. Die beiden beginnen eine Affäre, doch Li hält B ständig auf Distanz. B lässt sich nicht beirren und nähert sich ihr mit kleinen Aufmerksamkeiten.

Das Spielfilmdebüt der Chinesin Shao Yihui ist eine leichte Komödie über das Leben von gut situierten Mittelaltrigen. Die Darsteller sind allesamt sympathisch, der Rhythmus des Film funktioniert gut. B FOR BUSY zeigt ein ganz anderes Bild als sonst in chinesischen Filmen dominiert. Die Protagonisten stammen aus der oberen Mittelschicht, müssen nicht um ihr Überleben kämen. Sie haben Zeit, sich auch mit trivialeren Dingen des Alltags zu beschäftigen.