Benesch: „Ich fand den Moment des Schulebetretens schon immer einschränkend und irgendwie trist.“


Der Redaktionsliebling DAS LEHRERZIMMER feierte seine Weltpremiere auf der 73. Berlinale in der Sektion Panorama und gewann im Rahmen dessen bereits den Cicae Art Cinema Award und den Label Europa Cinemas-Preis. Gleich in sieben Kategorien ist der Film für den Deutschen Filmpreis, auch bekannt als Lola, nominiert, dessen Verleihung am 12. Mai 2023 ansteht. In der glaubwürdig inszenierten Geschichte, die ab dem 4. Mai 2023 im Kino zu sehen ist, versucht die engagierte junge Mathematik- und Sportlehrerin Carla Nowak eine Diebstahlserie an ihrer Schule aufzuklären – und verliert schon bald die Kontrolle über die Situation.
Berliner Filmfestivals-Autorin Stefanie Borowsky sprach mit Regisseur İlker Çatak und Hauptdarstellerin Leonie Benesch über eine idealistische Lehrerin, Eltern-WhatsApp-Gruppen und die leichte Fremdheit mit der Welt.

Berliner Filmfestivals: Herr Çatak, Sie haben nicht nur Regie geführt, sondern mit Ihrem Co-Autor Johannes Duncker auch das Drehbuch zu DAS LEHRERZIMMER verfasst. Wie ist die Idee zum Film entstanden? Warum wollten Sie einen Film über die Schule machen?

İlker Çatak: Johannes hat eine Schwester, die Mathematik- und Physiklehrerin ist. Sie erzählte von einem ähnlichen Vorfall an ihrer Schule. Daraufhin haben wir begonnen, über solch eine Geschichte nachzudenken. „Über Schule“ sollte es eigentlich nie sein, sondern über Menschen, die in einer Schule arbeiten.

Es geht um eine engagierte junge Lehrerin, die alles richtig machen möchte. Als sie sich vor einen Schüler stellt, der des Diebstahls verdächtigt wird, und auf eigene Faust herauszufinden versucht, wer hinter den Diebstählen an der Schule steckt, verliert sie dennoch bald die Kontrolle über die Geschehnisse. Die Spannung und der Druck, der auf Carla Nowak lastet, übertragen sich auf die Zuschauer*innen. Sie haben ausführlich recherchiert, mit vielen Lehrer*innen gesprochen. Glauben Sie, dass Lehrer*innen heute unter mehr Druck stehen als noch zu Ihrer Schulzeit?

İÇ: Ja. Denn die Kommunikationswege unter Schüler*innen und Eltern sind viel kürzer: E-Mails, WhatsApp-Gruppen. Die heutigen Lehrkräfte stehen unter Druck, alles richtig machen zu müssen. Das Selbstbewusstsein auf Elternseite ist auch höher. Da kommt es schon mal vor, dass Eltern von den Lehrkräften eine Rechtfertigung fordern, warum ihr Kind eine schlechte Note bekommen hat. Das gab es in meiner Schulzeit nicht. Da hatte die Lehrkraft einen anderen Stellenwert.

Im Laufe des Films verhärten sich die Fronten immer mehr. Carla, die Sekretärin, das Kollegium, die Eltern, die Schüler*innen – alle scheinen plötzlich involviert zu sein und ihre jeweilige Position vehement zu verteidigen. Dabei macht auch Carla Fehler – und es kommen leise Zweifel daran auf, ob die unter Verdacht stehende Sekretärin wirklich hinter den Diebstählen steckt. Frau Benesch, was ist für Sie das Besondere an Ihrer Filmfigur Carla Nowak? Was zeichnet sie aus?

Leonie Benesch: Carla ist und bleibt idealistisch und sich selbst treu. Ich hätte an ihrer Stelle schon längst das Handtuch geschmissen. Sie bleibt aber am Ball und versucht bis zum Schluss, das Richtige zu tun. Das finde ich besonders.

Wie haben Sie sich auf Ihre Rolle vorbereitet? Konnten Sie eigene Erfahrungen aus ihrer Schulzeit in Ihre Rolle einbringen?

LB: Ich denke, unterbewusst sind sicher Erinnerungen mit in die Arbeit eingeflossen. Das Klassenzimmer an sich ist ja ein Ort, den ich aus der Perspektive als Schülerin noch kenne. Und die Räumlichkeiten erinnern natürlich an die Schulzeit. Für mich geht damit eine gewisse Beklemmung einher, ich war keine unglückliche Schülerin, aber ich fand den Moment des Schulebetretens schon immer einschränkend und irgendwie trist. Man wusste, jetzt muss man hier die Zeit absitzen.

Die engen Schulflure spiegeln auf der Bildebene die einengende und immer verfahrenere Situation, in der Carla Nowak steckt. Das Gebäude, in dem Sie gedreht haben, stammt aus den 1960er-Jahren, wirkt karg, dunkel und anonym und könnte für viele deutsche Schulen stehen, die so oder ähnlich aussehen. Herr Çatak, haben Sie bewusst ein Gebäude ausgewählt, das sich keiner bestimmten Stadt oder Region zuordnen lässt?

İÇ: Ja. Wir wollten, dass der Film etwas Zeitloses bekommt.

Ihr Film spielt fast ausschließlich im Schulgebäude. Die Lehrerin als Hauptfigur ist in jeder Szene zu sehen. Warum haben Sie sich dazu entschieden, die Hauptfigur nur in ihrem beruflichen Umfeld zu zeigen und nicht privat?

İÇ: Weil es nicht wirklich interessiert, wie diese Figur privat lebt. Wir sehen ihr in Entscheidungsmomenten und unter Stresssituationen zu. Das sagt mehr über sie, als die Farbe ihres Sofas oder das Haustier, das sie hält.

Carla Nowak hat eine polnische Zuwanderungsgeschichte, die nur am Rande zur Sprache kommt. Warum war Ihnen das wichtig, Herr Çatak? Auch die Familie des Schülers, der des Diebstahls verdächtigt wird, hat eine Zuwanderungsgeschichte, in diesem Fall eine türkische. Darüber hinaus scheinen auch die Berufe seiner Eltern bei den Lehrer*innen, die den Schüler befragen, Vorurteile hervorzurufen. Was stand für Sie bei der inhaltlichen Gestaltung der Szenen, in denen es um die Migrationsgeschichte der Figuren oder ihrer Familie geht, im Vordergrund?

İÇ: Es ging mir darum, die Befangenheiten abzubilden, mit denen ich als Kind von Eltern mit Migrationsgeschichte aufgewachsen bin. Ab der vierten Klasse kam ich auf ein Berliner Gymnasium, wo ich in meiner Klasse das einzige Kind von türkischen Eltern war. Du fühlst, dass du fremd bist, und suchst nach Kompensationsmechanismen: überkorrekte Sprache, Angepasstheit, bloß nichts falsch machen. Später, als Erwachsener, gerätst du dann auch mal in ein Racial Profiling und fragst dich: Warum? Nur weil ich nicht so aussehe wie ihr? Ohne daraus ein Riesenfass zu machen, wollte ich diese leichte Fremdheit mit der Welt, aber auch mit sich selbst in dem Film bespielen.

Leonie Benesch in DAS LEHRERZIMMER. © Alamode Film

Sie sind in Deutschland und in der Türkei zur Schule gegangen. Was muss sich Ihrer Meinung nach im deutschen Schulsystem ändern – und warum hat sich in den letzten Jahrzehnten so wenig verändert? Wie sind die bisherigen Reaktionen von Lehrer*innen auf den Film ausgefallen?

İÇ: Die Reaktionen fallen bislang sehr gut aus. Wir bekommen immer wieder das Kompliment, dass der Film sehr gut recherchiert und authentisch sei. Was sich am Schulsystem ändern muss, das kann ich nicht wirklich kommentieren, denn da gibt es Expert*innen, die das besser können. Nur soviel: Niemand steht gern um acht Uhr morgens im Klassenzimmer. Weder Schüler*innen noch Lehrkräfte. Da könnte man ja mal anfangen.

Frau Benesch, wie war die Zusammenarbeit mit Regisseur İlker Çatak und der Kamerafrau Judith Kaufmann, die im 4:3-Format meistens nah bei der Protagonistin bleibt und so den Fokus auf Carla und ihr Verhalten in der immer auswegloseren Situation richtet, für Sie?

LB: Die Arbeit mit İlker ist sehr besonders, denn er begegnet allen Spieler*innen auf Augenhöhe und am Set herrscht ein ganz wunderbar konzentriertes und aufmerksames Miteinander. İlker hat klare Vorstellungen, arbeitet aber ergebnisoffen. Das ist die ideale Voraussetzung dafür, dass kreativ gearbeitet werden kann. Insbesondere das Zusammenspiel zwischen İlker und Judith Kaufmann, unserer großartigen Kamerafrau, hat mich zutiefst beeindruckt und ich dachte nach dem Dreh, dass ich nur noch so arbeiten möchte.

Sie waren European Shooting Star der Berlinale 2023. Was hat diese Auszeichnung für Sie bedeutet?

LB: Die Auszeichnung hat mich sehr, sehr glücklich gemacht. Was für eine Ehre, mich in diese Reihe zählen zu dürfen. Zumal es ja nicht nur ein Preis ist, sondern das Ganze ja eine Reihe an Events und Networking-Gelegenheiten geknüpft war und wir zehn ja der europäischen Filmlandschaft vorgestellt wurden.

Herr Çatak, können Sie sich vorstellen, weitere Filme zu drehen, die in der Schule spielen? Was ist Ihr nächstes Projekt?

İÇ: Ich arbeite gerade an unterschiedlichen Geschichten. Eine davon, „Gelbe Briefe“, handelt von Theaterleuten, die unter Staatswillkür ihre Anstellung verlieren und sehen müssen, wie sie ihre Ideale als Künstler*innen und Eltern aufrechterhalten. Das ist vermutlich mein nächstes Projekt.

Die Fragen stellte Stefanie Borowsky.