Vorfahr*innen und Verbundenheit beim 17. XPOSED International Queer Film Festival


Teddy-Gewinner ALL THE COLOURS OF THE WORLD ARE BETWEEN BLACK AND WHITE © Polymath Pictures

Auf welchen Reichtum an Erfahrungswerten kann ich vielleicht zurückgreifen, wer sind meine Verbündete*n und Allies im Hier und Jetzt? Das 17. XPOSED Queer Film Festival Berlin blickt laut Festivalleiterin Merle Groneweg dieses Jahr vom 15. bis 18. Juni sowohl auf die Vergangenheit und ihren Impact auf das Heute als auch auf die Vielfalt queerer Lebensentwürfe der Gegenwart und die Möglichkeit der Heilung.

Mit 14 Langfilmen, darunter aktuelle (Festival)lieblinge wie der diesjährige Gewinner des Teddy Award für den besten Spielfilm, ALL THE COLOURS OF THE WORLD ARE BEETWEEN BLACK AND WHITE, außerdem DAS BLAU DES KAFTANS und MUTT, sowie 44 Kurzfilmen bietet das Festival dabei wieder eine wilde Mischung an, in der Produktionsjahre eine erfrischend geringe Rolle spielen. Trotz überwundener Pandemie tut das Festival außerdem etwas für die erweiterte Community beziehungsweise Nicht-Berliner*innen mit einem Online-Programm, das den afrikanischen, queeren Filmklassiker DAKAN von Mohamed Camara sowie zwei Kurzfilmprogrammen über den Salzgeber Club beinhaltet.

Ein Highlight des Festivals ist die Lolly-Verleihung am 18. Juni, bei der die aus den Filmkuratorinnen, Filmschaffenden, Performance-Künstlerinnen und Theoretiker*innen Ncube, Sanni Est, Kristýna Genttnerova und Mònica Rovira bestehende Jury drei Preise für die besten queeren Beiträge vergibt. Sie verkünden außerdem den*die Gewinner*in des 9. Queer Short Film Fund.

Queeres Filmschaffen wird beim XPOSED unlängst auch jenseits der Leinwand weitergedacht. So gibt es beispielsweise noch einen XPOSED Pop Up Campus, der mittels Workshops und Vorträgen für 20 registrierte Gäst*innen filmische Expertise von der Entwicklung über die Budgetierung bis hin zu Festivalstrategie und Präsentation vermittelt. Und auch der „Wikipedia Edit-A-Thon on Queer Experimental Film“ erlebt eine diesjährige Neuauflage – einfach nach vorheriger Anmeldung unter thomas@xposedfimfestival.com mit Laptop vorbeikommen, und Wikipedia mit fehlenden Infos zu queerem Filmschaffen auf die Sprünge helfen. Zudem gibt es noch eine immersive VR-Experience in der Lounge des Moviementos – das dieses Jahr neben den erstmaligen XPOSED-Locations Wolf und Il Kino erneut die Hauptspielstätte des Festivals ist – auszuprobieren, nämlich Scanning the Horizon: An Immersive Archive von Benjamin Busch.

Marie Ketzscher

Das 17. XPOSED Queer Film Festival Berlin findet vom 15. bis 18. Juni statt.

Im Folgenden finden sich Programmtipps der BFF-Redaktion.

SLUG LIFE

Darum geht es:
Freundschaft und Solidarität zwischen Frauen. Mannsgroße Nacktschnecken, die man sich unkompliziert um den Hals schlingen kann. Lust. Körperkult. Hedonismus. Und natürlich: Absurdität.

Was du zum Film wissen musst:
Sophie Koko Gate hat an der renommierten Royal College of Art Animation studiert. Bereits in ihrem Abschlussfilm HALF WET erkundete sie in ihrer originellen Bildsprache, in der alles nass – fluide vielleicht -, und in pink-rosa Tönen jenseits von gängigen Schönheitsnormen gehalten ist, mögliche Formen des gesellschaftlichen Miteinanders und des Älterwerdens. – MK

Termin beim 17. XPOSED
Donnerstag, 15. Juni, 18:00 Uhr, Moviemento (Opening Night Shorts – Divergence)

BECOMING MALE IN THE MIDDLE AGES

Darum geht es:
Das brennende Verlangen, ein Kind zu haben – es wird medial besehen vor allem als weibliches Begehren definiert, obgleich es genügend Männer gibt, die unter ungewollter Kinderlosigkeit leiden. Pedro Neves Marques BECOMING MALE IN THE MIDDLE AGES nimmt sich des Themas an. Und tut dies, indem er eine queere und eine heterosexuelle Perspektive zueinander bringt. Beim Heteropärchen ist er derjenige mit Kinderwunsch, sie probiert es nur für ihn. Auch beim homosexuellen Paar gibt es nur einen Partner, der Vater werden will, dafür aber richtig. Er will auch das möglichst körperliche Erlebnis dazu und lässt sich dazu die befruchtete Eizelle kurz in der Körper setzen, wo sie kurzzeitig zumindest ein Gefühl von Schwangerschaft auslösen soll.

Was du zum Film wissen musst:
Im Grunde geht es in beiden Konstellationen – und auch in einer Sequenz, die die Debatte um in-vitro-Fleisch aufgreift – um das menschliche Bedürfnis des Kinder-Bekommens und die (Un)möglichkeit, es mithilfe des technischen Fortschritt zu erfüllen, außerdem um den erweiterten Familien- und Gesellschaftsbegriff. BECOMING MALE IN THE MIDDLE AGES ist außerdem wunderbar reduziert und sinnlich fotografiert und konzentriert. Die Überlegung, das queere Partnerschaften viel weniger Anpassungsschwierigkeiten an neue technologische Mittel haben und eher Gewinn aus ihnen ziehen können, hallt nach. – MK

Termin beim 17. XPOSED
Samstag, 17. Juni 2023, 14:00 Uhr, Moviemento 1 (Shorts 4 – LOST AND FOUND)

AMAZON WOMAN

AMAZON WOMAN © Anna Vasof

Darum geht es:
In AMAZON WOMAN wird der Kopf der umtriebigen Animationsfilmregisseurin Anna Vasof selbst zum Experiment: Statt auf dem Smartphone tippt Vasof auf ihrem eigenen Gesicht herum, das kopfgroße Smartphone schaut teilnahmslos zu. Oder: Vasofs Haupt ist der Teebeutel, der immer wieder ins heiße Wasser getaucht wird; der Teebeutel sitzt indes locker auf ihren Schultern. Und so weiter.

Was du zum Film wissen musst:
AMAZON WOMAN lässt sich natürlich einfach als simpler Pointenjoke genießen, er lässt sich aber auch als Metapher für Entfremdung schauen. Ständig bewältigen schließlich auch viele von uns (Amazonen des Alltags?) einfache Handgriffe, ohne sie bewusst zu reflektieren. Gerade die Handy-Episode lädt zu solchen Überlegungen ein: Wie bewusst ist der Blick auf das Handy, wer kontrolliert hier eigentlich wen? Und: Ist das Handy wirklich das Objekt und der Mensch das Subjekt? – MK

Termin beim 17. XPOSED
Samstag, 17. Juni 2023, 14:00 Uhr, Moviemento 1 (Shorts 4 – LOST AND FOUND)

DAS BLAU DES KAFTANS

DAS BLAU DES KAFTANAS © Arsenal Filmverleih

Darum geht es:
Halim (Saleh Bakri) und seine Frau Mina (Lubna Azabal) sind ein eingeschworenes Team: Sie betreiben nicht nur eines der letzten traditionellen Kaftan-Geschäfte in der Medina von Salé, einer Stadt im Nordwesten Marokkos, sie haben einander auch in allen Lebenslagen beigestanden – und dass, obwohl Mina im Inneren weiß, dass der geliebte Partner eigentlich Männer begehrt. Die Eingespieltheit der beiden kommt ins Wanken, als der schöne Auszubildende Youssef (Ayoub Missioui) im Kaftan-Laden zu arbeiten beginnt.

Was du zum Film wissen musst:
Mit dem palästinensischen Schauspieler Saleh Bakri und der belgischen Schauspielerin Lubna Azabal prominent besetzt, lebt Maryam Touzanis DAS BLAU DES KAFTANS von der Sinnlichkeit der Bildgestaltung und ihrem Fokus auf die feinen, fließenden Stoffe, den perlenden Schweiß im Hamam und die Schönheit aller drei Hauptdarsteller*innen im Allgemeinen. Die feine Balance zwischen emotionalem Kitsch und überzeugendem Drama gelingt dem Oscar-Shortlist-Kandidaten nicht immer, aber das wahnsinnig vertraute Verhältnis der Eheleute ist so nuanciert inszeniert, dass man das gern ignoriert. – MK

Termin beim 17. XPOSED
Freitag, 16. Juni, 21:10 Uhr, Wolf Kino

ANHELL69

Darum geht es: 
Ein junger Regisseur erinnert sich an die Vorbereitungen für seinen Horrorfilm. In der Ich-Form als würde er seine Tagebucheinträge wiedergeben, erzählt er ausführlich von den Vorsprechen, die er einer Vielzahl junger Männer gemacht hat und wie er aus ihnen in Angel 69, wie sich der junge Mann in den sozialen Medien nennt, seinen idealen Protagonisten gewählt hatte. Angel 69 betört ihn mit seiner androgynen und melancholischen Art. Der Regisseur fertigt eine Vielzahl von Probeaufnahmen von ihm und begleitet ihn auch in seinem Alltag auf Video, was als Material im Dokumentarfilm, ein Hybrid aus Dokumentarischem und Fiktionalem, eingesetzt wird. Das Resultat ist ein ungewöhnliches cineastisches Werk, das die Kunst des Filmemachens selbst feiert, aber auch ein Zeitzeugnis der aktuellen kolumbianischen Generation ist, die für sich nur wenig Zukunftsperspektive sieht. Der Film hat etwas Morbides, aber gleichzeitig Anrührendes.

Was du zum Film wissen musst: 
Regisseur Theo Montoya wird in diesem filmischen Experiment persönlich, schafft es aber gleichzeitig, eine Bestandsaufnahme nicht nur der Jugend seines Heimatlands Kolumbien, sondern auch darüber hinaus eine apokalyptische Stimmung einzufangen, mit der sich Teile der jungen Generation weltweit identifizieren werden. ANHELL69 ist der erste Langfilm des Regisseurs, der letztes Jahr beim Festival in Venedig Premiere feierte und bereits auf eine gewisse Festivalkarriere zurückblickt. – TV

Termin beim 17. XPOSED
Donnerstag, 15. Juni, 20:15 Uhr, Kino Moviemento