Sex, China und der Spreewald: Ideologiekritik beim 37. Filmfest Dresden

„So, I wonder … in a city where everyone seems to be part of a couple – how exactly do I land a date in Bejjing?“ Na, kommt der Tonfall bekannt vor? Genau, Anna Sophie Loewenberg alias Su Feing greift satirisch Carries-Erzählstimme aus SEX AND THE CITY für ihr Webcast SEXY BEIJING – LOOKING FOR DOUBLE HAPPINESS auf, und nutzt sie für eine Art fiktionale Reality-TV-Show, in der sie Passantinnen in verschiedenen Vierteln Pekings befragt, was sie tun könnte, um nicht mehr Single zu sein. Das ist saulustig, zumal die konfrontative westliche Art, mit der Loewenberg als Su Fei im kleinen Kleidchen selbstbewusst, in fließend idiomatischem Chinesisch mit ihren Interviewpartnerinnen bezaubernde kleine Culture Clashes evoziert, die genauso viel über chinesische Partnersuche verraten wie über das in westlichen Kulturen oft so ostentativ zur Schau getragene Datingleben.
SEXY BEJING war der Auftaktfilm eines extra von Popo Fan für das 37. Filmfest Dresden (8.-13. April) kuratierten Programms, „Tongues (Re)United.“ Fan hatte ein spannendes Kurzfilmprogramm zwischen Live Action und Doku-Essay zusammengestellt, das Sprache in seiner Doppelfunktion als Repressionswerkzeug sowie Ermächtigungstool untersuchte. Neben Loewenbergs Beitrag stach auch Popo Fans eigener Film LERNE DEUTSCH IN MEINER KÜCHE, mit dem er einen rassistischen Übergriff auf seine Person während der Covid-Pandemie satirisch überhöht verarbeitet, heraus – aber vor allem Amir Ovadia Steklovs INVISIBLE COUNTDOWN, der formal stärkste Beitrag des Programms.
Amir Steklov bearbeitet mit INVISIBLE COUNTDOWN die eigene Ohnmacht, aber auch die Sprachlosigkeit, die er angesichts der deutschen Staatsräson in Bezug auf Israel empfindet. Gegen die Lautstärke und Allgegenwart dieser Staatsräson wehrt er sich mit filmischen Mitteln: Er dreht tagsüber mit einer Infrarotkamera (Berlin wird weiß und beängstigend gedämpft) und reduziert die visuelle Überforderung, in dem er einen Countdown von 24 Frames pro Sekunde (also der Standard-Framerate für Kinofilme) hin zu einem Frame pro Sekunde vornimmt – die Zuschauer*innen haben also den Eindruck, der Film würde immer langsamer, bis er aufhört. Wir hören Steklovs Stimme, verstärkt, dicht am Ohr; er wollte den Effekt von Noice-Cancelling-Kopfhörern imitieren. Er erzählt, wie es sich als arabisch gelesener queerer Jude in Deutschland lebt, wie er Jobs verliert, gemieden wird, den Diskurs so empfindet, dass er als Jude, der sich für eine Waffenruhe und gegen den Genozid einsetzt, in Deutschland unerwünscht ist. Das ist persönlich, politisch, und bisweilen unbequem nah dran. Mit einer dringlichen Sprache formuliert.

Die Suche danach, wie ein richtiges Leben im falschen aussehen könnte, wie ein Aufbegehren aussehen könnte, sie war immer wieder ein Thema in Dresden, unter anderem auch im wunderbaren LIKE WHAT WOULD SORROW LOOK von Hao Zhou, der den LUCA Filmpreis für Geschlechtergerechtigkeit mit nach Hause nehmen konnte. Ein vermeintlich regimekonformer chinesischer Mann geht doppelt fremd: In seiner Wohnung lebt er unlängst mit seinem langjährigen Partner (einem Amerikaner noch dazu); manchmal lieben sich die zwei auch, wenn die Stimme seiner Verlobten mit ihren über Lautsprecher skandierten, propagandistischen Tageslosungen durch das geöffnete Fenster schallt. Als sein Doppelleben auffliegt, sind sowohl Lover als auch Verlobte fassungslos. Zhou inszeniert ihre Coping-Strategien köstlich humorvoll und nimmt so die alles bestimmende kommunistische Propaganda als auch gesellschaftliche Normen aufs Korn.
Den tiefsten Blick ins ideologische Nähkästchen wagte aber das Retroprogramm „Notizen aus dem Bruderland,“ das Sven Pötting und Vincent Förster zusammengestellt hatten: Das Programm versammelte drei Filme, die internationale Studierende an der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR (HFF), der heutigen Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, gedreht haben. Am schönsten und eindringlichsten sicherlich OYOYO von Chetna Vora aus Indien (1980). Vora filmte in ihrem eigenen Studierendenwohnheim. Zugewandt in die Kamera blickend erzählen ihre Wohnheim-Nachbarinnen entwaffnet ehrlich von den eigenen Fremdheitserfahrungen, aber auch Heimweh, das mit Gemeinschaft, Tanz und Musik bekämpft oder gelebt wird. Der Film funktioniert dabei mitnichten als Lehrstück über den großen internationalen, solidarischen Zusammenhalt in der DDR, der manchmal so nostalgisch beschworen wird – Vora hält ihre Interviewpartnerinnen immer an, über die eigene Identität und Herkunft zu sprechen (und es kommt immer wieder durch, dass sie nicht immer respektvoll behandelt werden). Das vermeintlich Unpolitische ist in diesem Film aber am intensivsten: die mongolische Studentin, die darüber spricht, wie die Eltern zu anderen Menschen werden, je länger und weiter man weg ist, oder auch die iranische Studierende, die glaubt, mit ihrer unendlich großen Sehnsucht nach der Liebe potentielle Anwärter*innen zu vergraulen. Im Gegensatz dazu nahm sich Juan Forchs kurzer Film DIE REVOLUTION KANN NIEMAND AUFHALTEN (1976) als aktivistisches Fotocollage-Manifesto aus: Er inszeniert dabei die Widerstandsbewegung gegen den chilenischen faschistischen Diktator Pinochet, musikunterlegt, wild geschnitten, in Agitprop-Manier.

Am sicherlich unbequemsten und ungewöhnlichsten aber war der im Spreewald gedrehte JAGDPARTIE des sudanesischen Regisseurs Ibrahim Shaddad (1964). Er verhandelt ein Jim-Crow-Geschichte nebst Cowboy-Hut und DDR-Modezeitschriften: Ein Schwarzer Mann hat mit der Tochter eines Bauern angebandelt, nun wollen ihn die Nachbarn lynchen. Auf seiner Flucht kommt er bei einem Ehepaar unter, die ihn erst wegschicken wollen, ihn dann aber doch mit Essen versorgen und ihn mitarbeiten lassen und tolerieren. Die Annäherung kulminiert sogar in männlich-freundschaftlicher Teamarbeit und Mittagspause, mit homosexuellen Schwingungen. Doch die deutschen Cowboys rücken näher für das blutige Finale. Als Genrefilm über rassistische Rachefantasien, die sich konkret an der Mischehe entzünden, kommt man nicht umhin, JAGDPARTIE auch als Kommentar auf Rassismus im Allgemeinen zu deuten, der auch in der DDR grassierte.
Sven Pötting machte in seiner Anmoderation dieses sehr schönen Programms deutlich, mit wieviel Aufwand die Suche nach dem Material einherging, wie schwierig es war, überhaupt digital verfügbare Filme zu erhalten. Und verdeutlichte, dass die Kürzung der Mittel in Sachsen (für das Filmfest Dresden heißt das konkret laut dem MDR „der sächsischen Kulturstiftung wurde die beantragte Förderung in Höhe von etwa 20.000 Euro nicht bewilligt, und von der Stadt Dresden und dem Freistaat könnten zusammen über 40.000 Euro in diesem Jahr weniger zur Verfügung stehen“) auch auf die so dringend erforderliche Digitalisierung und Archivarbeit einen Einfluss haben wird. Der sudanesische Regisseur Ibrahim Shaddad, so Pötting, kämpfe jetzt gerade darum, nicht nur seine eigenen in der Welt verstreuten Filme, sondern auch die der Sudanese Film Group, trotz Krieg zu erhalten. Welche wichtigen Erinnerungen und Perspektiven durch den fehlenden politischen Willen, in Restaurierung und Archivierung zu investieren, auch hierzulande verloren gehen könnten – das hat das 37. Filmfest Dresden gerade erst wieder eindrücklich gezeigt.