„Einfach das Ende der Welt“ von Xavier Dolan



„Einfach das Ende der Welt“ basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Jean-Luc Lagarce, der selbst HIV-infiziert war und 1995 noch vor der Erstaufführung im Alter von 38 Jahren an AIDS gestorben ist.
Der kanadische Regisseur Xavier Dolan hat sich in den vergangenen Jahren bei den europäischen Festivals den Ruf eines filmischen Wunderkindes erarbeitet. „Einfach das Ende der Welt“ gewann 2016 den Großen Preis der Jury in Cannes.
Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er die Dynamik des früheren Zusammenlebens von Louis und seinen Angehörigen nicht eindeutig darstellt, sondern vielmehr als ambivalentes und verhaltenes Puzzle im Verborgenen konstruiert. Dadurch gestaltet er ein Familienporträt, welches die vielschichtigen Thematiken seiner vorangegangenen Filme, die versteckte Homosexualität („Sag nicht, wer du bist!“), die Suche nach der eigenen Identität („Mommy“) oder die komplizierte Beziehung zur eigenen Mutter („Ich habe meine Mutter getötet“) weitergehend erkundet. Die Intensität wird von den großartigen Schauspieler unterstrichen, die in stimmungsvoll ausgeleuchteten Einstellungen agieren. Vor allem die eindringlichen Close-Ups stechen hervor, da sie komplexe Emotionen in den Gesichtern offenbaren.
Dabei nimmt die Figur von Vincent Cassel eine besondere Stellung ein. Mit einer Mischung aus Selbsthass und Verachtung gegenüber den Menschen in seiner Umgebung stellt er den jüngeren Bruder Antoine auf eindrucksvolle Weise dar, obwohl seine Besetzung aufgrund der enormen Altersdifferenz wenig nachvollziehbar erscheint. Denn mit seinen grauen Haaren und tiefen Grübchen unter den Augen passt Cassel (Jahrgang 1966) ganz einfach nicht mehr in die Rolle eines 32-jährigen.

Vor allem den kleinen Momenten wird in der Darstellung eine große Bedeutung verliehen. Als Louis im Wohnzimmer das erste Mal Antoines Frau Catherine (Marion Cotillard) begegnet, scheint die Zeit stehen zu bleiben. Ein kurzer „Augen-Blick“ wird mit Zeitlupenaufnahmen und Musikuntermalung in die Ewigkeit gestreckt. Ebenso wird Louis in den Räumen des Elternhauses auf lebhafte Weise mit Momenten aus seiner Jugend konfrontiert. In seinem ehemaligen Kinderzimmer erinnert er sich an eine erste sexuelle Erfahrung mit seinem Schulfreund Pierre. In Verbindung mit einem emotionalen Score von Gabriel Yared und Pop-Songs von Blink 182 oder Moby erschafft Dolan neben aller Melodramatik eine nostalgische Erinnerung an die Jugend und die Rückkehr ins eigene Elternhaus.
Dort scheint die Zeit unabhängig von den äußeren Umständen sowohl in musikalischer Hinsicht als auch in den Verhaltensweisen der Familienmitglieder zueinander irgendwo in Louis‘ Jugend stehengeblieben zu sein. Dabei bleiben von dem Film vor allem starke Szenen wie eine gemeinsame Choreographie in der Küche zu O’Zones Pop-Sünde „Dragostea din tei“ in Erinnerung.

Henning Koch

„Einfach das Ende der Welt“ (Originaltitel: „Juste la fin du monde“), Regie: Xavier Dolan; DarstellerInnen: Gaspard Ulliel, Vincent Cassel, Nathalie Baye, Marion Cotillard, Léa Seydoux; Kinostart: 29. Dezember 2016

Termin bei 14 Films:
Samstag, 4. Dezember 2016, 19:30 Uhr

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