38. Interfilm: INTRO von Anne Isensee


Filmstill aus Anne Isensees Animationsfilm INTRO. Foto: Dok Leipzig

„Ein Zeichentrickfilm im Cinemascope-Format. Ein belebter Kreisverkehr in einer europäischen Großstadt. Blick auf die Straße. Autos und Roller kommen unentwegt auf uns zu.“ So beginnt INTRO, der neue Kurzfilm von Anne Isensee. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Er beginnt genauso mit dem, was der zitierte, von der Regisseurin selbst gesprochene Off-Kommentar beschreibt: mit einer detaillierten Großstadtszenerie, die mit wenigen Farben und feinem Strich von Sonja Rohleder animiert wurde. Unterlegt wird das alles von Großstadtgeräuschen der Sounddesignerin Irma Heinig.

Soweit so üblich, wenn man mal davon absieht, dass eine Off-Stimme in der Regel nicht beschreibt, was gleichzeitig auch von der visuellen Ebene abrufbar ist. Gedoppelte Informationen solcher Art bleiben eher illustrativen Musikvideos vorbehalten, oder auch einem experimentierfreudigen Regisseur wie Dominik Graf, der ja in seinen Spielfilmen wie DER FLESEN oder DIE GELIEBTEN SCHWESTERN gerne Off-Kommentare einsetzt, die mehr an geführte Meditation als an konventionelles Storytelling erinnern.

Anne Isensees Konzept ist ein anderes. Bei ihr bildet die Wortebene zunächst ab, was Blinde und Menschen mit Sehbehinderung in der barrierefreien Fassung eines Films zu Hören bekommen. Nebenbemerkung: Wer darauf nicht angewiesen und damit entsprechend unvertraut ist, findet auf vielen Streaming-Plattformen (und für den Kinogebrauch in einer App namens Greta) die Option „Audiodeskription“ oder „Hörfilmfassung“ – und kann mit deren Hilfe auch z.B. einem visuell wenig fesselnden Tatort-Krimi folgen und nebenbei Abwaschen oder die Socken im Kleiderschrank farblich sortieren.

Nach kurzer Zeit trennen sich in Isensees INTRO allerdings Wort und Bild. Die Sprecherin des Off-Kommentars, bzw. der Audiodeskription, ist plötzlich unzufrieden mit der eigenen Arbeit, korrigiert und kürzt ihre soeben eingesprochene Text-Vorlage. Man hört also einem Work-in-Progress zu. Dieses selbstironische Spiel hat schon allein deshalb großen Unterhaltungswert, weil es mit den üblichen Seh- und Hörgewohnheiten überraschend bricht und Ebenen öffnet, auf denen die Grenzen zwischen dem handelnden Personal innerhalb einer filmischen Erzählung und deren Urheberinnen aufs Schönste durchlässig werden. Gleichzeitig wird gefragt: Was sieht man eigentlich wirklich, wenn man etwas sieht? Was verpassen wir, wenn wir in jedem Bild instinktiv – oder auch nur gewohnheitsmäßig – nach Ansatzpunkten einer Narration suchen? Und: Wie lenkt Sprache unsere Aufmerksamkeit? Das ist ganz schön viel für gut sieben Minuten Film. An dieser Stelle sind sie allerdings kaum zur Hälfte verstrichen.

Dann geht das Licht aus, auf der Leinwand. Die Sprecherin tappt auch im wahrsten Sinne im Dunkeln und versucht das plötzliche Nichts irgendwie zu füllen. „Dunkel“ verliert als Beschreibung schnell seine Gültigkeit, hellere Flächen beginnen herum zu wabern. Offenbar soll Sehenden hier am konkreten Beispiel vermittelt werden, was eine starke Sehbehinderung unter Umständen noch an visuellen Eindrücken zulässt: Kontraste, die Wahrnehmung von schummrigem Licht. Im Kopf der Sprecherin ist dabei so viel los, dass ihr das Beschreiben nicht mehr reicht. Sie driftet ab und erzählt kurzerhand von sich selbst. Ablenkung war schon öfter ein großes Thema in Anne Isensees Filmen, z.B. in dem online verfügbaren hinreißenden Zweiminüter MEGA TRICK.

In der zweiten Hälfte von INTRO treten die verschiedenen Ebenen allerdings zueinander in Konkurrenz, als würden sie sich von der einen kreativen Kraft emanzipieren, die diesen ganzen Film doch eigentlich zusammenhalten müsste. Wenn die Sprecherin irgendwann feststellt, dass sich die Standard-Typo der sie begleitenden Untertitel (für Hörgeschädigte) in ihre eigene Handschrift verwandelt hat, verleiht sie selbst diesen Untertiteln ein Eigenleben. Entweder wandeln die Buchstaben sich, um mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder sie verstärken das immersive Verhältnis, dass die Sprecherin zu „ihrem Film“ gerade entwickelt. (Was rede, denke, schreibe ich da? Natürlich haben Untertitel kein Eigenleben. Aber was wäre wenn? Wie ist das mit Untertiteln, die durch KI gesetzt werden? Können sie Filme ruinieren oder auch verbessern? Lassen sich diese Gedankenspiele nicht auch auf unfilmische Felder übertragen? Wie sähe beispielsweise eine Stadtplanung aus, die durch den Einsatz künstlicher Intelligenz ohne Barrierefreiheit gar nicht mehr möglich wäre? Usw. usw…)

Wahrscheinlich hat es noch nie ein Film geschafft, auf so kurzer Distanz mit einem solchen Minimum an visuellen Reizen, derart zu überwältigen – und Gedanken in neue Bahnen zu lenken. Schade nur, dass man im Rahmen des Interfilm-Programms „Hamsterrad“, nicht die Gelegenheit bekommt, den Film gleich noch einmal zu „sehen“, dann nur mit den Ohren – und geschlossenen Augen. Auch deshalb ist der Besuch der Webseite https://www.translating-animation.com unbedingt zu empfehlen. Dort kann man mit den verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten immerhin anhand eines längeren Teasers zu INTRO experimentieren. Ausführliche Gespräche mit den Beteiligten und Expertinnen in Sachen barrierefreiem Film erhellen zudem die Hintergründe dieses eigenwilligen, komplexen und unerhört spielerischen, sich und uns hinterfragenden Projektes, dessen Fortsetzung man sich nur wünschen kann. Habe ich gerade „unerhört“ gesagt? Ich meine: geschrieben? Was für ein unpassendes Wort, in diesem Zusammenhang… Oder?

Ralf Krämer

INTRO, Regie: Anne Isensee, Deutschland 2022, 7:05 min.

Läuft auf dem 38. Interfilm noch am 19.11.22. um 22 Uhr im Pfefferberg Theater